
coal mine birds
Aus der Serie SOIRÉE DANSANTE
Uraufführung: 16. Oktober 2025, 20 Uhr
Weitere Shows: 17. und 18. Oktober
Odeon Theater
Dauer: 60 Min
Eine Kollaboration mit PHACE
Musik von Simon Steen Andersen, Alessandro Baticci, Andreas Berger, Jerome Combier, François Sarhan und Agata Zubel.
Wenn ihr Lied verstummte, bestand Lebensgefahr. Kanarienvögel wurden ab den 1890er-Jahren von Grubenarbeitern in die Minen mitgenommen, um Kohlenmonoxid und andere Giftgase aufzuspüren: Wenn der Vogel unter Tag in seinem Käfig umfiel, war dies ein unmissverständliches Signal für die Bergleute, die Mine eiligst zu verlassen. Der Begriff „Canary in the coal mine“ ist seither zu einer vielgenutzten Metapher geworden: Sie meint den sprichwörtlichen Hiobsboten, den frühen Warner vor noch unsichtbaren Risiken.
Auf den Kanarienvogel im Kohlebergwerk spielen nun auch Liquid Loft & PHACE, das Ensemble für Neue Musik an, die ihre laufende Serie Soirée Dansante im Wiener Odeon fortsetzen. Der Titel ihrer jüngsten Zusammenarbeit, coal mine birds, gilt all jenen, die das Ungewisse der nahen Zukunft und deren Bedrohungen genauer erahnen, sogar am eigenen Leib spüren können als die meisten ihrer Mitmenschen – all jenen beispielsweise, die heute Kunst herstellen, um vom Morgen zu berichten, als Indikatoren und Seismografen der sozialen, politischen und ökologischen Umbrüche, die uns noch blühen werden. Im antiken Griechenland ließ sich übrigens auch Pythia, die erste Priesterin des Orakels von Delphi, durch aus der Erde tretende Gase in Trance versetzen, ehe sie ihre Prophezeiungen wagte.







Musiktheater jenseits gegenwärtiger Opernmodelle wird in coal mine birds (als Postskriptum des Festivals ImPulsTanz) geboten: eine von zehn PerformerInnen und fünf Musikkräften auf der Bühne gebotene Choreografie als verfremdete Nachstellung einstiger Ballsituationen, in dem das Publikum eine stage-on-stage betritt, als skulpturales Umfeld in die Ereignisse gewissermaßen mit einbezogen wird. Sechs zeitgenössische Kompositionen sollen live gespielt, Werke von Simon Steen Andersen, Alessandro Baticci, Jerome Combier, François Sarhan, Agata Zubel und dem Liquid-Loft-Klangvirtuosen Andreas Berger von einem PHACE-Quintett intoniert werden: Musik, die Historisches aktualisiert, um Künftiges zu projizieren. So zeichnet sich ein installativer Tanzabend als geisterhafte Variation eines Balls ab, in dem Maßnahmen gegen die Einsamkeit gesetzt werden, dem ersehnten Rausch, der Entgrenzung entgegen. Körper und Objekte werden zu Hybridwesen fusioniert, ungeahnt erstehend, um wieder zu zerfallen, ohne Stabilität, wie eine durch die Synapsen blitzende Idee, wie eine dringende Erinnerung oder eine Utopie, die keinen langfristigen Bestand haben kann.
Welchen Nutzen die Künste überhaupt haben können, fragte sich der Schriftsteller Kurt Vonnegut einst: Die „positivste Idee“, die ihm eingefallen sei, nannte er die „Kanarienvogel-in-der-Kohlemine“-Theorie der Künste. Ihr zufolge seien Kunstschaffende für die Gesellschaft nützlich, „weil sie übersensibel sind. Sie kippen um wie Kanarienvögel in mit Giftgas gefüllten Kohleminen, lange bevor robustere Typen die Gefahr erkennen können.“ Sie schlagen Alarm, gehen dabei allerdings bisweilen zugrunde. Auch das 2003 in St. Petersburg gegründete Künstlerkollektiv Chto Delat, benannt nach Lenins politischem Pamphlet von 1901 („Was tun?“) und betrieben von Menschen aus bildender Kunst, Philosophie, Lyrik und Choreografie, hat die Kanarienvogelmetapher benutzt: In den „Canary Archives“ des Kollektivs von 2022 wird eine pazifistische Widerrede zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sicht- und hörbar. Wer auf Lebensgefährliches hinweist, geht das Risiko des eigenen Untergangs ein. Respekt vor der Unerschrockenheit der Mahnenden, Fühlenden und Sehenden, vor den sich selbst zur Verfügung gestellten coal mine birds, die uns mit ihren tristen Liedern die Augen öffnen können.
Stefan Grissemann
Reinhard Fuchs, künstlerischer Leiter PHACE, über die Produktion: Cole mine birds ist eine fiebrige Expedition ins Dunkel, in der Klänge, Körper und Objekte zu instabilen Hybriden verschmelzen: Didos Lamento als chromatischer Ground unaufhörlich hinabgleitend, zersplittert in Glissandi, Pizzicati, Bottleneck-Schreie. Erinnerungen flackern wie Stroboskope, Licht als Narkose und Rausch zugleich – ein Club, ein Grab, eine Bühne der Schatten. Stimmen, Körper, Samples, Rockmusik, Klavier-Explosionen, Field Recordings: alles bricht auseinander, alles beginnt von Neuem. Eine Hommage, eine Verfremdung, eine Verwandlung – wild, sarkastisch, intim. Musiktheater als brennende Mine, als frostiger Gletscher, als Trauerlied, das sich selbst zerreißt.
Mit freundlicher Unterstützung von IMPULSTANZ
ODEON Theater, Wien
ODEON Theater, Wien
ODEON Theater, Wien
dates
Alcaraz Clemente Manuel, Schlagwerk
Bénard Coralie, Tanz/ Choreografie
Berger Andreas, Komposition/ Soundkonzept
Bruckner Markus, Produktion PHACE
Carroll Jackson, Tanz/ Choreografie
Commisso Cristina, Tanz/ Choreografie
Dienz Alexandra, Kontrabass
Diaz Valentina, Social Media
Eder Michael, PR & Social Media PHACE
Fuchs Reinhard, Künstlerische Leitung PHACE
Grissemann Stefan, Text
Haring Chris, Künstlerische Leitung/ Choreografie
Harrer Roman, Stage Management
Herterich Verena, Tanz/ Choreografie
Hoursiangou Mathilde, Klavier/ Keyboard
Jelinek Thomas, Licht Design/ Scenografie
Khazanehdari Livia, Tanz/ Choreografie
Lavignac François-Eloi, Tanz/ Choreografie
Lehner Cornelia, Company Management
Meves Katharina, Tanz/ Choreografie
Murillo Dante, Tanz/ Choreografie
Osten Ida, Tanz/ Choreografie
Röhrle Stefan, Kostüme
Schueler Roland, Cello
Seebacher Walter, Klarinette(n)
Thaler Judith, Produktion
Timbrell Hannah, Tanz/ Choreografie