church of ignorance
In Church of Ignorance wird die mächtige Dominikanerkirche vorübergehend zu einem Marktplatz wilder Sprachen, zu einer Art begehbaren, performativ genutzten babylonischen Bibliothek. Der Körper ist in diesem Spiel zunächst nur „Corpus“ – Reservoir und Speicher von Slangs und Dialekten aus ganz Europa. Denn der Körper, so lautet eine gängige These, lüge nicht; er dient hier, in diesem Sinne, als Sensorium und Transkriptor fremder Laute und Geräusche.
Die Worte, die während der Liturgie der Church of Ignorance zum Einsatz kommen, sind kaum zu verstehen, aber die Zeichen der Körper, die Ergebnisse des Momentanen, Unwiederholbaren der gestisch-mimischen Kommunikation sind deutlich zu entziffern. Die Liquid-Loft-Performer tragen Klangspuren fremder Zungen, Wesen und Orte mit sich, rufen Soundtrack-Sequenzen auf, die sie tänzerisch bearbeiten, modulieren, ergänzen. Was zunächst wie babylonisches Sprachengewirr erscheinen mag, wird durch Granular- und Mikro-Sampling-Techniken zu einer Form der Verständigung, die viel mehr ist als ihre rein sprachliche Bedeutung. Fragen der Identität werden wie Mantren verhandelt, Gesichter verhüllt und Körperteile künstlich erweitert. Die vielfältigen Sprachskulpturen bringen Gestalten hervor, die zu amorphen Wesen transzendieren; zwischen dem erratischen Flow der Silben und dem Esperanto der Bewegungssprache entstehen choreografische Kippbilder und spirituelle Assoziationsräume.
Denn am Ende des Anthropozäns, wenn der Mensch sein Scheitern an der Welt endgültig eingestehen wird, müssen die Perspektiven neu justiert werden, auch (und gerade) jene der Kommunikation. Church of Ignorance ist das utopische Versprechen, der Katastrophe zu entgehen, vielleicht auch zu lernen, die Widersprüche der nachmodernen Welt Schritt für Schritt aufzulösen und mit ihrer immensen Komplexität umzugehen.
photos: c. haring, m. loizenbauer
church of ignorance
Uraufführung Donaufestival 2018
Stefan Grissemann
Der Weg vom Glauben zum Wissen ist weit. In der Kirche der Ignoranz sind alle Sicherheiten ausgehebelt, hier hat man sich an Vermutungen zu halten und Vertrauen zu haben. Eine Gruppe dunkel vermummter Ungestalten kauert in der Säulenhalle der Dominikanerkirche: deformierte, verhüllte Wesen, physisch und klanglich in stetiger Verwandlung begriffen. Die Metamorphose ist ein Zentrum dieser Arbeit – von der Reglosigkeit geht es in die wilde Bewegung, von der Ruhe in den Sturm, tour-retour. Die Mutation der Geräusche, ihre Verfestigung zu sprachlichen Zusammenhängen, zu mysteriösen Monologen und undurchdringlichen Kommunikationsabläufen, ist das akustische Pendant zu den Körper- und Gedankensprüngen des Ensembles. Es quietscht und knarrt, knirscht und raschelt. Es atmet, es spricht, es singt. Synthetisches Gelächter brandet auf, die Klänge werden digital zerkleinert, Stille und Lärm fließen ineinander.
Eine Meta-Liturgie findet statt in dieser Church of Ignorance, ein Ritual, das keine spezifische Religion meint, sondern das Metaphysische an sich; die unbestimmte Angst ist dabei so präsent wie die Euphorie – Erstarrung und Entfesselung liegen nah beieinander. Als Säulenheilige, in sich gekehrt, wie von inneren Kräften getrieben, bewegen sich die PerformerInnen vorwärts, gehen (ganz buchstäblich) die Wände hoch, geben sich als mönchische, als messianische Figuren zu erkennen, um im nächsten Augenblick vom Prophetischen zurück ins Profane zu kippen. Tatsächlich wird in Church of Ignorance ein utopisches Spiel mit Images, Tonfällen und Sprachen getrieben. Die Gruppe hantiert, im Kirchenraum frei beweglich, mit maßgeschneiderten Soundfiles, interpretiert die unvertrauten Worte und Töne lippen- und körpersynchron, gestisch, mimisch. Dabei findet ein produktiver gegenläufiger Prozess statt: Die zugespielten Stimmen, all die versunkenen Dialekte und Minderheitenjargons muten durch ihre Präsentation und tänzerische „Transkription“ plötzlich seltsam vertraut an, weil man dabei neu zu hören, zu sehen und zu begreifen beginnt, während die AkteurInnen selbst, im Umgang mit dem Wortgeklingel, sich gefährlich fremd zu werden drohen. Die collagierten Geräusch- und Klangatmosphären gerinnen zur Grundlage imaginärer Prä- und Protosprachen, die von unsichtbaren Gegnern attackiert zu werden scheinen, an den Frontlinien zwischen Mantra-Forschung, Linguistik und Horrorfilmtheorie.
Church of Ignorance setzt Spiritualität, Mensch und Maschine in kühne Ver- und Überblendungen; das Pathos der Transzendenz geht über in jenes der Trance, in den Ritus des Betens, der Versenkung, ins Wahnhafte. Die jähe Stille, die den Noise-Kaskaden und Stimmengewittern zuverlässig folgt, ist die Konsequenz einer lustvollen Überschreitung der Grenzen, die dem Denken, der Fantasie, dem Tanz als Form gesetzt wurden. Die alten Konventionen gelten nicht mehr. Sie sind in der Kirche des Nichtwissens außer Kraft gesetzt.
Lân fan taal / Explore the North, Leeuwarden, NL
Lân fan taal / Explore the North, Leeuwarden, NL
Lân fan taal / Explore the North, Leeuwarden, NL
donaufestival krems, AT
donaufestival krems, AT
dates
Koproduktion: donaufestival (AT), Lân fan taal / Explore the North (NL) und Liquid Loft
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Karin Pauer, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Komposition, Sound: Andreas Berger
Licht Design, Szenografie: Thomas Jelinek
Choreografische Assistenz: Stephanie Cumming
Kostüme: Stefan Röhrle
Libretto: Aldo Giannotti
Programmtexte: Stefan Grissemann, Thomas Edlinger
Dramaturgische Beratung: Arne Forke
Beratung Ausstattung: Aoibheann Greenan
Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent
Stage Management: Roman Harrer
Foto- und Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Produktionsassistenz: Christina Helena Romirer
Company Management, Produktion: Marlies Pucher
Danke für die freundliche Unterstützung: Nordbahn-Halle
Church of Ignorance ist Teil der Foreign Tongues Projekte: Foreign Tongues erhält als IN SITU Pilot Project eine Projektförderung über IN SITU ACT, ko-finanziert von der Europäischen Union über das Programm Creative Europe. IN SITU Koproduktionspartner: Atelier 231 (FR), Festival di Terni (IT), Freedom Festival (UK), La Strada Graz (AT), Lieux publics (FR), Norfolk & Norwich Festival (UK), Østfold kulturutvikling (NO), Oerol Festival (NL), Theater op de Markt (BE) and UZ Arts (UK).
Research-Partner: CDC Toulouse (FR), Dublin Dance Festival (IR), Tanz.Ist Dornbirn (AT), Opera Estate Festival Bassano del Grappa (I), DansBrabant (NL).
Liquid Loft wird unterstützt von: MA7 Kulturabteilung der Stadt Wien und BKA Bundeskanzleramt Kunst & Kultur
credits
der standard, 30.4.2018
Chris Haring mit Liquid Loft: Am Gängelband der Technologie / Helmut Ploebst
“Church of Ignorance” heißt die neue Choreografie, die beim Donaufestival uraufgeführt wurde.
Krems – Acht schwarzverhüllte Figuren empfangen ihr Publikum in der Weite der Kremser Dominikanerkirche. Erst einmal ignorieren sie völlig, dass da jemand kommt. Wie Skulpturen kauern die Gestalten oder stehen herum, während die Zuschauer ausschwärmen. Sie müssen in dieser Church of Ignorance, so nennen Chris Haring und seine Gruppe Liquid Loft ihre neue Choreografie, ihre Plätze selbst finden.
Das Stück (Uraufführung beim Donaufestival) ist Teil eines Projekts mit dem Titel Foreign Tongues. Darin untersucht Haring die mysteriösen Verbindungen zwischen Körper und Wort, Kultur und Technologie. Beispiele unterschiedlich verbreiteter Sprachen – von Arabisch über Okzitanisch bis zu Zypriotisch – werden erst gesammelt, dann gesampelt und getanzt. Sobald die Tänzerinnen und Tänzer in Bewegung geraten, wirken sie wie gefallene Engel, die mit tonlosen Lippenbewegungen mitsprechen, was ihnen aus MP3-Lautsprechern vorgespielt wird. Diese Geräte in Form schwarzer Halbliter-Bierdosen tragen sie stets mit sich.
In den Arbeiten von Liquid Loft hängen die handelnden Gestalten sehr oft an den Fäden visueller Medien. Sie werden gelockt, gezwungen, aufgeheizt und angestachelt, durch Kameralinsen gepresst und von Projektoren an Wände geknallt. Bei Church of Ignorance sind die Bildermedien verschwunden. An ihre Stelle tritt ein System aus Klängen und Sprachresten.
Ohne unmittelbar teilnehmen zu müssen, geraten die Besucher so ins Spiel der Darsteller. Allerdings auf eine Art, die immer noch Distanz zu diesen verzweifelt komischen Kreaturen erlaubt. Damit haben Chris Haring und Liquid Loft eine weitere fabelhafte Arbeit mit elaboriertestem Sound (Andreas Berger) und so bestechenden Performern wie Katharina Meves hingelegt.
tanz.at, 29.4.2018
/ Edith Wolf Perez
In der internationalen Tanz-Community werden babylonische Sprachverwirrungen gerne als Kunstgriff eingesetzt. Der österreichische Choreograf Chris Haring geht in seiner neuen Serie „Foreign Tongues“ einen Schritt weiter. Er rückt die Unmöglichkeit der (verbalen) Kommunikation ins Zentrum der choreografischen Recherche. Bei der Uraufführung von „Church of Ignorance“ in der imposanten Architektur der Dominikanerkirche nahm ein Cast von acht TänzerInnen das Publikum auf eine rätselhafte Reise mit.
Erst dringen Geräusche aus den schwarzen Skulpturen, die zusammengekauert auf dem Boden oder an die Wand gelehnt im Raum verteilt sind. Langsam schälen sich die Figuren aus den Stoffbahnen, in die sie eingewickelt sind. Das Geplapper verstärkt sich zu ohrenbetäubendem Krawall, bis die Gruppe sich versammelt und einen von ihnen an einem Mauervorsprung emporhebt – eine Pestsäule nimmt Gestalt an, um im nächsten Moment aufgelöst zu werden. Denn woanders hat Katharina Meves eine hohe Stimme verpasst bekommen, wenig später wird sie auf französisch radebrechten und mit anderen Tänzern in einen Dialog treten. Niemand versteht den Inhalt. Einzig die Gesten und Bewegungen zu diesen Lautmalereien vermitteln eine Art von Interaktion zwischen den Sprechenden. Non-verbale Kommunikation als Ersatz für das gesprochene Wort?
Gleichzeitig wachsen diese amorphen Wesen über ihre Körper hinaus, wenn sie das Stretchmaterial der Kostüme (Stefan Röhrle) in ständig neuen Varianten ausdehnen, schrumpfen, binden oder knoten und damit neue Persönlichkeiten darstellen, Identitäten wechseln, neu verhandeln, verwerfen.
Mit ihren iPods und Mini-Lautsprechern steuern die TänzerInnen ihren Redefluss, bestimmen ihren Rhythmus und körperlichen Ausdruck selbst. Die Sprachaufnahmen stammen aus persönlichen Interviews, die im Rahmen des „Foreign Tongues“-Projektes in verschiedenen Regionen Europas gemacht wurden. Das Sounddesign stammt von wieder von Andreas Berger. Die Beherrschung und exakte Umsetzung der technischen und darstellerischen Mittel ist bei der international gefragten Compagnie mittlerweile als selbstverständlich vorauszusetzen und funktioniert auch diesmal makellos.
Wenn Luke Baio und Arttu Palmio eine Auktion mit einem 30 Dollar Angebot beginnen, und ganz verständlich um Aufbesserung werben, wirkt das in dem pausenlosen Treiben der Veränderungen wie ein Anker, der das schwankende Boot in Position hält. Doch bald verfallen die beiden in den Slang amerikanischer „auctions“ und treiben das Publikum weiter vor sich her.
Ob „The Church of Ignorance“ ein „utopisches Versprechen“ (Eigendefinition Liquid Loft) einlöst oder doch eine Dystopie zeichnet, liegt letztlich wohl in der Deutung des Betrachters. Denn die Zeichen, die die großartigen TänzerInnen (neben den bereits erwähnten sind das Dong Uk Kim, Hannah Timbrell, Dante Murillo, Anna Maria Nowak und Karin Pauer) in den Raum setzen, bleiben zwangsläufig dem anthropozentrischen Gehabe, das die „Widersprüche der nachmodernen Welt“ hervorruft, verhaftet.
Doch diese Interpretationen sind freilich zweitrangig, denn „The Church of Ignorance“ ist kein philosophischer Diskurs, sondern Gegenwartstheater in seiner aufregendsten Form: Es wirft Fragen über den Zustand unserer Gesellschaft auf, die noch lange in der Zuschauerin weiterwirken.
tanzschrift, 29.4.2018
/ DItta Rudle
Mit „Church of Ignorance” setzt Liquid Loft / Chris Haring das Projekt „Foreign Tongues“ fort. Der erste Teil (Wiener Version) fand im Februar 2017 im Tanzquartier statt. Im August kommt im Rahmen von ImPulsTanz ein weiteres Forschungsergebnis zur Aufführung: „Babylon (Slang)“. Ausgangspunkt für die verschiedenen Aufführungen sind Sprachaufnahmen, die im Rahmen von persönlichen Interviews in verschiedenen Regionen Europas entstanden sind. Ziel ist eine Verschmelzung von vokaler und physischer Kommunikation mit Sound und Licht. Im Rahmen des Donaufestivals ist eine atemberaubend intensive und perfekte Performance in der seit langem profanen Dominikanerkirche in Krems gelungen.
Unter dem hohen Rippengewölbe der ehemaligen Klosterkirche der Dominikanermönche in Krems, die von Kaiser Joseph II. säkularisiert worden ist und eine wechselvolle Geschichte, vom Feuerwehrdepot bis zum Kino, erlebt hat, dehnt sich der Ort der Aufführung, ein Erliebnisraum. Der Chor dient den acht Tänzer*innen ebenso als Bühne wie das gesamte riesige Kirchenschiff.
Die Theorie zu dem Projekt „Foreign Tongues“ kann auf der Site von Liquid Loft nachgelesen werden. Im Grunde geht es Haring um ein Angebot von Möglichkeiten der Kommunikation, wenn die Menschheit am Ende ist, nichts mehr geht, vor allem nicht die Kommunikation. Neue Perspektiven müssen gefunden werden. Als Zuschauerin erlaube ich mir aber, die Theorie, den Gedanken an ein Ende dieser, unserer jetzigen, Welt, wegzuschieben und nur die Performance in der riesigen Kirche zu genießen, in der anfangs amorphe Wesen umherkriechen, die sich allmählich aus ihrer schwarzen Verhüllung lösen und zu plappern, schreien und murmeln beginnen. Miteinander und gegeneinander, die eigene Stimme verfremdend und zerhackend, einsam oben im Chor wimmernd. In dieser „Kirche der Unwissenheit“ huldigen die stets sich verändernden dunklen Gestalten eine seltsame Liturgie, die auch immer wieder auf christliche Bilder zurückgreift. Ein Säulenheiliger wird angebetet und wieder abgesetzt, eine hagere Christusfigur mit nacktem Oberkörper versucht, Zuhörer für seine Predigt zu finden, es wird gehandelt, wie einst im Tempel, eine Schlange windet sich, es kann auch die verführerische Lilith oben in der leeren Apsis sein. Die geflüsterten, gewimmerten, gebrüllten Wörter, Silben und Sätze sind zum Großteil unverständlich, auch werden fremde Sprachen und Dialekte benutzt, die nur wenigen vertraut sind.
Durch die elektronische ad hoc Bearbeitung – jede Tänzerin, jeder Tänzer arbeitet punktgenau mit den eigenen Soundfiles – scheinen die Stimmen nicht mehr aus Kehle und Mund zu kommen, sondern aus dem Körper, die, noch einmal sei es betont, im ständigen Wandel sind, Mensch und Tier, Alien und Prophet sein können.
Sprache, Sound (manchmal höllisch anschwellend, dann wieder monoton skandierend, in jedem Fall den Kirchenraum füllend), Bewegungen, minimal oder ausgreifend, kaum merklich oder rasant, und Mimik (so die Köpfe nicht verhüllt sind) verschmelzen zu einer Einheit.
Eine Utopie, eine positive Möglichkeit, wie die Kommunikation der Körper einmal funktionieren könnte, sehe ich nicht, immer wieder wälzen sich die Performer*innen wie in Verzweiflung auf dem harten Steinboden – eine Meisterleistung, eine Tortur für Gelenke, Knochen und Muskulatur, bewundernswert! Diese vermummten, verhüllten, entkleideten Gestalten, die durch die Kirche geistern, plötzlich verschwinden und wieder als andere auftauchen, sind keine Menschen von heute mehr, sind fremde Wesen die in fremder Sprache, die keiner bekannten ähnelt, mit anderen Mitteln kommunizieren. Einmal gegen Ende, stehen alle acht an der Rückwand des Chores, schwarze Gestalten, die die Arme zu Zeichen heben, die Beine zu Buchstaben formen. Eine Schrift an der Wand. Doch ich kann sie nicht entziffern.
Das Publikum muss mitspielen, den Darsteller*innen nachgehen, sich entscheiden, wem es folgt, wenn sich die Figuren im Raum verteilen, ausweichen, wenn sie wie blind durch die Menge rasen. Niemand kann sich der Magie dieses Spektakels entziehen. Wie exakt und ausdrucksstark das Ensemble arbeitet, wie harmonisch und unermüdlich energiegeladen die acht arbeiten, muss nicht eigens betont werden. Chris Haring weiß genau, was er will und die Tänzer*innen ebenso.
Der Applaus, wie der Sound durch Hall und Widerhall verdoppelt und verdreifacht, holt die Tänzer*innen und das Auditorium aus der Verzauberung.
wiener zeitung, 1.5.2018
Babel sprechen / Theresa Luise Gindlstrasser
Liquid Loft zelebriert beim Donaufestival eine “Church of Ignorance”.
Die Dominikanerkirche Krems ist etwas Bizarres. Mit dem Bau der Kirche wurde um 1240 begonnen. Sie ist Teil des ehemaligen Dominikanerklosters. 1786 im Zuge der Josephinischen Reformen säkularisiert, dient der Bau seit 2011 als Veranstaltungs- und Ausstellungsort. Ohne alle religiösen Insignien erscheint die katholische Überwältigungs-Architektur tatsächlich freundlich, hell, weiträumig. 2017 platzierte das Donaufestival Krems die fünfstündige Performance “Habitat” von Doris Uhlich in eben dieser Halle. 2018 gelangt “Church of Ignorance” von Liquid Loft zwischen sandbraunen, babylonisch hohen Mauern zur Uraufführung.
Sprache als Dickicht
Als Teil der Projektserie “Foreign Tongues” greift “Church of Ignorance” auf die Slang, Dialekte und Minderheitssprachen umfassende Audio-Bibliothek von Liquid Loft zurück. Manch Sound-File fand auch schon Eingang in die vorangegangenen Bühnenarbeit, die im Februar 2017 im Tanzquartier Wien gezeigt wurde. Diese Schnipsel interessieren im Kontext der “Church of Ignorance” aber nicht als inhaltlich bedeutungsvolle Rede. Sondern als Klangbild. Und als Material für die von den insgesamt acht Performenden vorgenommene körperliche Synchronisierung. Während der Ton individuell angesteuert aus portablen Lautsprechern kommt, gestikulieren die schwarz gekleideten Körper, öffnen sich präzise die Münder, fließt der Atem im Takt der abstrahierten Klänge. Typisch für Arbeiten von Liquid Loft ist die manisch-detaillierte Genauigkeit, mit der der künstlerische Leiter Chris Haring den vorab aufgenommenen Sound und die Choreografie synchronisiert. So schnell kann man gar nicht schauen, da purzelt schon der Klang aus den Körpern. Nein. Das ist die erzeugte Illusion. Wer oder was da vorher war, die Henne oder das Ei, der Mund oder das Wort, das wird während der einstündigen Performance zum Nebenschauplatz.
Nach und nach entschlüpfen aus Kapuzenpullovern Köpfe. Luke Baio, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Karin Pauer und Hannah Timbrell beginnen zu predigen. Im Kirchenschiff verteilt, entsteht ein Gebrabbel, es wird immer lauter, die Sprache als Dickicht. In schnellen Szenenübergänge wechseln die Performer zwischen Gruppenaktionen und kleinen Soli.
Der ehemals sakrale Raum wird voll durchlaufen. Die Apsis, die Wände, die Säulen, von überall her entstehen Situationen. Ohne inhaltlich bedeutungsvoll zu werden, wandeln sich die Beziehungen zwischen den Performenden. Diese schälen sich aus schwarzen Schichten, stopfen Kleidungsstücke in Hosen und mutieren zu dämonisch brabbelnden Wesen und verführerisch auf Einzelne zugehende Bittstellende. Das Sommer-Sonnenlicht flutet den Raum. Ganz bestimmt, die “Church of Ignorance” macht hier einen Wort-Gottesdienst.
kleine zeitung / salzburger nachrichten, 29.4.2018
“Church of Ignorance” beeindruckte beim Donaufestival
Mit der Dominikanerkirche hat sich das donaufestival in Krems eine eindrucksvolle neue Location erschlossen. Nachdem dort im Vorjahr Doris Uhlich nackte Körper als “Habitat” inszenierte, nutzt aktuell Choreograf Chris Haring mit Liquid Loft das alte Gemäuer. Und wie: Die am Samstag uraufgeführte “Church of Ignorance” ist ein intensives Aufeinanderprallen aus Körpern, Sounds und Sprache.
Das Projekt ist Teil der “Foreign Tongues”-Reihe der Performancegruppe und rückt unterschiedlichste Dialekte, Slangs und Regionalsprachen in den Fokus. Mit portablen Boxen und kleinen MP3-Playern ausgestattet, übersetzen die acht Tänzer dieses Ausgangsmaterial in Rhythmik, Gestik und Mimik. Zunächst weit im Kirchenschiff verteilt sowie noch völlig von schwarzen Kapuzenpullovern und Gewändern verhüllt, regen sich alsbald die Leiber, um die die Besucher vorsichtig schleichen. Ein Kratzen hier, ein Zischen dort – langsam kommt Bewegung in die Sache.
Aus dem Skulpturenparcours wird sukzessive ein Aufeinanderprallen aus Sounds und Tanz: Unabhängig voneinander und doch eindrucksvoll aufeinander abgestimmt, lassen die Performer ihre Sprachsamples erklingen, geben ihnen mit weit aufgerissenen Augen und viel Emotion im Blick Bedeutung und verleihen so dem oft Unverständlichen eine Dringlichkeit, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Ist es nicht gerade Englisch, Französisch oder Vorarlbergerisch, so muss man sich ohnehin mehr auf den Klang als den Inhalt konzentrieren. Doch kaum ist eine kleine Sequenz, ein Pas de deux beendet, schon regt sich am anderen Ende des Raumes etwas.
Letztlich wird in dieser Kirche der Ignoranz, die entgegen des Titels vielmehr das Vielfältige und die Unterschiede feiert, Körpersprache im eigentlichen Sinn durchdekliniert. Welche Bewegung erfordert ein bestimmter Laut? In welcher Position verharre ich, wenn ein Satz abbricht? Und welche Dynamik erfährt ein “Gespräch”, bei dem das Gegenüber genau dieselben Worte wählt wie ich? Begleitet von Andreas Bergers an- und abschwellendem Soundtrack, der immer wieder die ganze Kirche erfüllt, wird man mehr als eine Stunde hineingezogen in eine Welt, die Kommunikation – funktionierende wie misslingende – visuell übersetzt und in einen völlig neuen Kontext stellt. Großer Applaus für ein höchst eindringliches Stück.
kurier, 27.4.2018
“Das Wort Ignoranz ist natürlich provokant”
Donaufestival. Choreograf Chris Haring zeigt seine “Church of Ignorance” in der Dominikanerkirche in Krems.
Körper, Sprache, Kirche: Das sind Eckpunkte der “Church of Ignorance”, die Choreograf Chris Haring mit seiner Gruppe Liquid Loft im Rahmen des donaufestivals am 28. April um 15 Uhr in Krems uraufführen wird.
Dass diese Begrifflichkeiten zum Teil auch neu verhandelt und ausgelegt werden, darf man erwarten. Die neu geschaffene Produktion nimmt Bezug auf den Aufführungsort: “Wir haben versucht herauszuarbeiten, was die Kirche im Mittelalter ursprünglich gewesen ist bzw. sein hätte können”, sagte Haring im Vorfeld zur APA. “Zum Teil wurde sie als Markthalle genutzt, es war aber auch ein Schutzort.”
Mit dem Wort “Ignoranz” spielt Haring dabei auch auf “Nichtwissen oder Nichtwissen-Wollen, etwas ignorieren oder negieren” an, was Teil der Kommunikation ist: “Ein Grund war für uns, wie wir heutzutage in diesem Europa diese Klänge und Kommunikation versuchen aufzunehmen – mit den dramatischen Wanderungs- und Migrationsströmen. Da ist das Wort Ignoranz natürlich provokant, steht aber auch im Zusammenhang mit einem Ort wie Kirche, der ursprünglich schützen sollte. Es ist keine Bestandsaufnahme, sondern mehr eine Art Statement.”
falter, 25.4.2018
Der mit den Zungen tanzt / Martin Pesl
Der Choreograf Chris Haring lässt zu exotischen Sprachen tanzen. Auch beim Donaufestival.
Im Probenraum in Wien-Favoriten wabert der Elektrosound. Vier Tänzerinnen und vier Tänzer sind fast mathematisch exakt im Raum verteilt. Während des Tanzens betätigen sie immer wieder kleine iPods, dann erklingen Stimmen in exotischen Sprachen, die Frauen und Männer bewegen perfekt synchron die Lippen dazu. Vom quietschvergnügten Baby der Assistentin am Rand lässt sich niemand aus dem Konzept bringen, auch Chris Haring nicht. Er wirft -für Außenstehende wie Geheimcodes klingende – Anweisungen in den Raum, schaut abwechselnd auf die Tanzenden und konzentriert in seinen Computer. Um 18 Uhr endet die Probe zu “Church of Ignorance”, der neuen Arbeit von Österreichs bekanntester Performance-Gruppe Liquid Loft. Das Stück wird am Auftaktwochenende des Donaufestivals in der Kremser Dominikanerkirche gezeigt.
Chris Haring ist der perfekte Gastgeber in seinem Probenraum. Er verzichtet aus Rücksicht auf den Gesprächspartner aufs Rauchen, entschuldigt sich für Chaos, wo keines zu erkennen ist. Im Gespräch gibt er sich empathisch, in sich ruhend. Oder auch müde. Der 47-Jährige ist erst am Vortag aus Brasilien zurückgekehrt, wo er mit dem Ballett der Oper São Paulo eine Choreografie einstudiert. Jetzt aber erzählt er von “Foreign Tongues”, dem groß angelegten Projekt, aus dem sich alle jüngeren Arbeiten von Liquid Loft speisen, auch “Church of Ignorance”.
“Wir beschäftigen uns eigentlich schon immer mit Sprache”, erzählt er. “Es hat damit begonnen, dass wir die Performer aufgenommen und sie zu ihrem eigenen Sound-Enviroment eine Bewegungssprache entwickelt haben.” Für “Foreign Tongues” nun legt die Compagnie seit einigen Jahren einen Pool an gesprochenem Text in unterschiedlichen Sprachen an. Vor allem für Slangs, Dialekte, Minderheiten-und Regionalsprachen interessiert sie sich. “Die sind besonders unmittelbar mit der Körpersprache verbunden”, sagt Haring.
Über Kulturzentren oder persönliche Bekannte werden weltweit Sprecherinnen und Sprecher des Okzitanischen, Limburgischen oder Esperanto gefunden und befragt, immer nach dem gleichen Katalog. “So verstehen wir zwar nicht Wort für Wort, was sie sagen, wissen aber, worüber sie sprechen”, erklärt Haring. Aus dem wachsenden Pool an Soundfiles bedient sich Haring nun für die einzelnen Aufführungen der Reihe “Foreign Tongues”.
Im Wiener Tanzquartier und in Toulouse liefen 2017 erste Teile, an jedem Spielort kommen neue Aufnahmen hinzu, die Sprachbeispiele werden für jedes internationale Gastspiel neu zusammengesetzt. “Es ist schön, in Japan spielen zu können und verstanden zu werden. Die schauen dich nicht nur als Exoten an, der irgendein mitteleuropäisches Problem hat.” In der – freilich schon seit über 200 Jahren profanierten – Dominikanerkirche soll es um Kommunikation nicht nur untereinander, sondern auch mit einer spirituellen Instanz gehen.
Für eine Minderheitensprache konnte Haring auf das Umfeld seiner Kindheit zurückgreifen: Burgenlandkroatisch, er stammt aus Schattendorf. In seiner Familie wurde viel Musik gemacht, beruflich lebte das Talent vor ihm aber niemand aus, der Vater arbeitete als Holzhändler.
Nach der Matura begann Chris Haring ein Musikstudium auf Lehramt, spürte aber von Anfang an, dass seine Musik in der Körpersprache lag. Umso leichter fiel es ihm, in Tanzcompagnien Fuß zu fassen. Renommierte Gruppen wie DV8 Physical Theatre in England empfingen männliche Tänzer mit offenen Armen. Ende der 1990er begann Haring auch zu choreografieren und zog sich dann rasch ganz hinter die Bühne zurück.
Mit Stephanie Cumming, Andreas Berger und anderen gründete er 2005 die Compagnie Liquid Loft, um neben Tanz den Medien Ton, Video und Technik den gleichen Stellenwert zu geben und sie zu Gesamtkunstwerken zu verknüpfen. Dafür gab es zahlreiche Preise, insbesondere den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig 2007.
“Im vergangenen Jahrzehnt gab es einen Punkt, wo man in der Performance plötzlich alles machen konnte, dadurch sind die Arbeiten ungewöhnlicher und schräger geworden”, erinnert sich Haring. “Du konntest als Choreograf ein Radiostück machen und warst trotzdem Choreograf.” Auch ans Medium Film hat er sich mehrmals gewagt. Vier experimentelle Filme entstanden mit der Künstlerin Mara Mattuschka. Diese schwärmt über ihn: “Wenn ich ChrisHaring mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen, er ist ein Genie. Ab ins Ungewisse, aber mit Turbogeschwindigkeit!”
Was den Technikeinsatz betrifft, für den Liquid Loft weltweit bewundert wird, legt Haring Wert darauf, sich eben nicht ins überfordernd Ungewisse zu stürzen. “Wir verwenden auf der Bühne die alltäglichen Gadgets als körperliche Erweiterungen.” Gerade das wirkt dann beeindruckend: dass hier mit banaler Gebrauchstechnologie, wie eben iPods, ästhetisch gezaubert wird. Bei Chris Haring ist es immer so, als würden mehr als nur die Körper tanzen. Zumindest bei “Foreign Tongues” tun es auch die Worte.
Auch im Rahmen der Aufführungen in Krems wird Chris Haring neues Material an fremden Zungen aufnehmen lassen, das seine babylonische “Spoken-Word-Symphonie” ergänzt. Am liebsten mag er jedoch eine, die hier nicht zum Zuge kommt: “Die schönste Sprache”, sagt er, “ist Fantasiesprache.” Die lässt sich dann nur mehr durch den Körper übersetzen.