false colored eyes
False Colored Eyes folgt dem insistierenden Blick der Screentests, dem niemals blinzelnde Kameraauge Warhols, der nichts anderes im Sinn hatte, als die Anmut gedehnter Momente der Inaktivität (in den Gesichtern, den Körpern, der Architektur) zu zelebrieren. Das radikal Private, dessen Veröffentlichung bei Warhol noch subversiv war, ist inzwischen bis zum Überdruss allgegenwärtig; ist zum Mainstream geworden, zum Hauptbilderstrom einer Gesellschaft, die sich permanent online schrecklich gut gelaunt und grundsätzlich gesetz- und regellos ausstellt.
Die Suche nach dem idealen Ich im selbstproduzierten Live- oder Standbild, die unablässige audiovisuelle Ego-Auslotung ist die finale Utopie einer Spaßspektakelsociety, der die Ideen schmerzlich ausgegangen sind. Dabei ist man der Prominenz (sich selbst) nie nah genug: In den hochauflösenden, unermüdlich nachgeschärften Ansichten vom immer tieferen Vor- und Eindringen in die Teilkörper und Körperteile wird eine Fantastic Voyage – wie ein berühmter Körperweltenreisefilm aus dem Jahr 1966 heißt – in die kostbaren Star-Mikrokosmen vollzogen: die Gastroskopie als avancierteste Form der Pornografie.
photos: c. haring, m. loizenbauer
eine koproduktion von impulstanz vienna international dance festival, burgtheater wien & liquid loft
Theatre National de Chaillot, Paris
Theatre National de Chaillot, Paris
Theatre National de Chaillot, Paris
Noorderzon Festival, Groningen, NL
Noorderzon Festival, Groningen, NL
Tanz.Ist Dornbirn, AT
Via 2016, Maubeuge, FR
Tanzbiennale Heidelberg, DE
Kasino am Schwarzenbergplatz, Vienna AT
Kasino am Schwarzenbergplatz, Vienna AT
Kasino am Schwarzenbergplatz, Vienna AT
Kasino am Schwarzenbergplatz, Vienna AT
dates
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Karin Pauer
Künstlerische Leitung, Choreografie, Regie: Chris Haring
Komposition, Sound: Andreas Berger
Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek
Kostüm: Julia Cepp
Theorie, Text: Stefan Grissemann, Thomas Edlinger
Stage Management: Roman Harrer
Licht Assistenz: Sveta Schwin
Fotos, Technischer Support Video: Michael Loizenbauer
Produktionsassistenz: Aymara Koch
Internationale Positionierung: Line Rousseau / A PROPIC
Produktionsleitung: Marlies Pucher
Dank an: Guy Cools, Michaela Grill, Roderich Madl, Mara Mattuschka, Hanna Schimek.
Eine Koproduktion von ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, Burgtheater Wien & Liquid Loft
Liquid Loft wird gefördert von der MA7 Kulturabteilung der Stadt Wien und dem BKA Bundeskanzleramt Kunst & Kultur
credits
neben der spur.
Die Dekonstruktion der Körper, die Sprache der Geister: Notizen zu False Colored Eyes
Stefan Grissemann
Die nachmoderne Vanitas ist in der elektronischen Ekstase, mit freundlicher Genehmigung der aktuellen Konsumtechnologie, gut aufgehoben. So ist der Heimweg von der Strobo-Party der alten Exploding Plastic Inevitables in die Fun-Factory der dauerplaudernden, sich um Kopf und Kragen (schau)spielenden Hotelgeister in Chelsea Girls alles andere als beschwerlich: Andy Warhol, dessen Arbeit an Pop & Politik ein Leitmotiv der unter dem Titel Imploding Portraits Inevitable soeben entstehenden Performance-Serie von Liquid Loft bildet, war der Prophet des insistierenden Blicks – der ennuyierte Messias eines niemals blinzelnden Kameraauges, das nichts anderes im Sinn hatte, als die Anmut gedehnter Momente der Inaktivität (in den Gesichtern, den Körpern, der Architektur) zu zelebrieren. In Warhols Luxus-Zeitverschwendungs- und Screen-Belastungstests definierten sich die Gegenkultur und ihre Instant-Superstars, indem sie sich selbst sarkastisch absolut setzten und damit gegen die noch immer hegemoniale Leistungs-Spießerei der mittleren Sixties agitierten. Aber die Zeiten haben sich bekanntlich verwandelt: Das radikal Private, dessen Veröffentlichung bei Warhol noch subversiv war, ist inzwischen bis zum Überdruss allgegenwärtig; ist zum Mainstream geworden, zum Hauptbilderstrom einer Gesellschaft, die sich im Welt-Online-Museum erschreckend gut gelaunt, gesetz- und regellos ausstellt.
Die Figuren in False Colored Eyes sind daher synthetische Wesen, auf der Bühne und der Leinwand: Fantasy-Phantome mit paradox „realen“ Körpern, Mutationen. Die Kameras und die Scheinwerfer werden in Stellung gebracht, um die Körper per Bildausschnitt zu zerlegen, die Einzelteile in der Projektion neu zusammenzubauen; die digitale Verschmelzung der Körperteile gebiert en passant kleine Monstren, schmatzende Doppelmundkreaturen und amphibisch anmutende Phantasiegeschöpfe. Und die Choreografie reicht diesmal tatsächlich bis in die Schlünde der Akteure, bis in die tiefen Kehlen der sich allen und in allem Offenbarenden: bis zum Tanz der Gaumenzäpfchen, der Schleimhäute und Rachenspeichelfäden. Das ist die Meta-Pornografie der totalen Selbstdekonstruktion.
Zunächst sind es jedoch vor allem Gesichter, die ins Visier genommen werden. Man serviert ein Stakkato der Stimmungsschwankungen mit akustisch verstärkten Zooms: Die Gesichtsmuskulatur tanzt den mood swing. Und Lou Reeds ewige Femme fatale, die Begehrte mit den unlauteren Absichten und der gefälschten Augenfarbe, bringt die Dinge auf den unsicheren Boden der Emotion zurück. False Colored Eyes feiert das Prozessuale, die Transformation, den Lauf der Dinge, Ideen und Klänge. Alles fließt, greift in- und aufeinander über.
Die live generierten Bilder korrespondieren mit den zugespielten: Es sind Aliens, die sich hier beharrlich selbst ausloten, ablichten und vermessen, als hätten sie ihre Menschenhüllen gerade erst angenommen, als wäre ihnen diese noch fremd, als staunten sie über die seltsamen Details ihrer Körper. Eine unnennbare Mission hält sie in Atem, lässt sie zunehmend groteske Posing-Unternehmungen wagen. Sie legen vernachlässigte Hautpartien bloß, ziehen und zerren zwanghaft an ihren Textilien, kratzen sich die Körper theatralisch wund. An der Haut wird gezupft, gedrückt, gezerrt, gezogen und geschabt, als wollte etwas aus dem Inneren nach außen dringen – scratch, rattle & roll. Der porentiefe Blick der Kamera untersucht mit hochdefinierter Zudringlichkeit Härchen, Lippen und Pupillen, Achselhöhlen und Ellbogen, die so, ins Gigantische vergrößert, genuin fremd erscheinen. Die Pin-Up-Posen entlarven sich als fake, als Anleitung zur Selbstentstellung. False Colored Eyes macht ernst mit dem Exhibitionismus.
Die auftretenden Mutanten sehen sich, jenseits von trist und glücklich, gebunden an das gespenstische Sound-Design. Der grinsende, seltsam schwankende Warhol-Stellvertreter im Ringelshirt ist selbst nicht mehr ganz bei sich, er tritt nur noch als Pro-forma-Zeremonienmeister in Szene, als Hampelmann des Hedonismus. Sein dunkles Lied kündet jedoch, vage apokalyptisch, von der Ankunft der Wellen und des Ozeans – und damit den kapitalistischen Pakt auf: verlangsamte Stimmen aus dem samtenen Untergrund, akustische Gegenbotschaften aus den versunkenen Sixties. Seit damals tönt die Musik des Konsums so schön, so gut, so unwahr, der nur die Subkultur noch etwas entgegenzusetzen hatte.
Die Szenarien, die False Colored Eyes durchspielt, sind konsequent musikalisiert: Die melancholisch verfinsterten Klanglandschaften versammeln tönendes Geröll aus sechs Jahrzehnten – das finstere Dröhnen unbewusster und unerklärlicher Schrecknisse, den schleifenden Beat des so charakteristischen Velvet-Underground-Sounds und die konsumlüsternen Stimmen amerikanischer Werbespots. Die gemurmelten, fragmentierten Konversationen, die von den Performern lippensynchron ausagiert werden, begleiten als klingende Rätsel (aber in Warhols Sinn eben auch ganz cool, nebensächlich) viele der mysteriösen Bilder, die da on stage hergestellt und (physiologisch kurios) an die Wand geworfen werden. Die Dialogschleifen wirken – obwohl sie es nicht sind – wie Filmkonversationen, die Inszenierung selbst oft wie eine Serie von Reenactments unbekannter, vielleicht erst noch zu drehender Filme: auch dies ein futuristisches Motiv.
Die psychedelischen Schlagschatten dieser Inszenierung sind unübersehbar, wie schon in Shiny, Shiny..., dem ersten Teil der aktuellen Liquid-Loft-Serie. Mit dem Delirium des Gleichgewichtsverlusts lösen sich die scheinbaren Ordnungen bald auf, die Figuren und ihre Perspektiven kippen, ganz buchstäblich, wie unter dem Einfluss toxischer Substanzen, sie multiplizieren sich im Bild-Feedback, verlieren sich in der Abstraktion. Nicht erst hier wird die komplexe Anlage dieses Spektakels evident, in dem sich vier Ebenen – das Bühnenspiel, die Schattenrisse, die Live-Kamera-Projektionen, die in Zeitlupe gesetzten Rückblenden – gegenseitig durchdringen, manipulativ an Raum und Zeit zu schaffen machen. Die Konflikte zwischen den zwei- und den dreidimensionalen Visionen, die Auseinandersetzungen mit der Räumlichkeit der Körper und deren digitalen Abbildern tragen dazu bei, die ästhetische Verabredung weiter zu komplizieren. Doppelstrukturen sind diesem Werk überall eingeschrieben: Doppelprojektionen (wie in Warhols Chelsea Girls, 1966), Doppelkörperinspektionen, Paarbildungen und Doppelstripduelle.
False Colored Eyes konstruiert ein befremdliches Universum, in dem die Dinge stets ganz leicht daneben, um die Ecke gedacht, über die Bande gespielt sind, absichtsvoll einige Zehntelsekunden oder ein paar Millimeter neben der Spur laufen: Das cartoonhafte Klicken trifft den zögerlichen Puls der klimpernden Performer-Lider nur fast, die Lippenbewegungen zu den eingespielten Texten sind zart asynchron, ein geringer Abstand wird auch zu den zitierten Gefühlswelten penibel eingehalten – der Horror ist gespielt, die Hysterie markiert, die Ekstase fingiert. Ein bizarr-libidinöser Solipsismus motorisiert diesen Abend, aber auch dieser ist leicht verschoben: in die Para-Erotik, den Meta-Sex.
Die Suche nach dem idealen Ich im selbstproduzierten Bild, die unablässige audiovisuelle Ego-Auslotung: Das sind die finalen Utopien einer Spaßspektakel-Society, der die Ideen ausgegangen sind. Dabei ist man der Prominenz (also sich selbst) nie nah genug: In den hochauflösenden, unermüdlich nachgeschärften Ansichten vom immer tieferen Vor- und Eindringen in die Teilkörper und Körperteile wird eine Fantastic Voyage – wie ein berühmter Körperweltenreisefilm des Chelsea-Girls-Jahres 1966 heißt – in die kostbaren Star-Mikrokosmen vollzogen: die Gastroskopie als avancierteste Form der Pornografie. Im Spiegelkabinett der Selbstoptimierung erklingt die Geistersprache der Kinomaschine, wird die gefrierende Bewegung der untoten Menschenbilder gefeiert: motion pictures. Es ist alles eitel, mag sein. Aber der Narzissmus ist, immerhin, das Letzte, auf das wir uns noch verlassen können.
Erst am Ende finden die sechs Protagonisten wirklich zueinander, zurück in die Körperunordnung, zu einem letzten gemeinsamen Exzess, ehe im träumerischen Finale der Song After Hours, Maureen Tuckers solitäre, leicht windschiefe Ode an die Nacht, erklingt.auge„All the people are dancing“, heißt es in Tuckers Vortrag, „and they’re having such fun“ – aber den Spaß haben immer nur die anderen. Wenn sich die Tür endlich schließt, bleibt der Tag für immer draußen. Sag Hallo zum Niemals! Aber lächeln, bitte: Du wirst dabei gefilmt.
dirty vogueing
Thomas Edlinger
„Es juckt, es schmatzt, es klappert. Das Es… Überall sind es Menschen im wahrsten Sinne des Wortes.“ So hätten vielleicht Gilles Deleuze und Félix Guattari über False Colored Eyes zu schreiben begonnen, wenn sie sich dabei an den berühmten Beginn des Anti-Ödipus erinnert hätten. Nur geht es dort nicht um Menschen, sondern um Maschinen. Genauer um Maschinen von Maschinen mit ihren Kopplungen und Schaltungen.
In False Colored Eyes geht es aber um Menschen, die wie alle Menschen aus anderen gemacht sind. Das klingt viel technischer, als es vielen lieb ist, gibt aber auch Luft zum Anders-Werden: Ich bin nicht ich, weil du nicht du bist. Wir spielen Leben, aber dieses Spiel meinen wir ernst. Eine Frau kratzt sich, fährt den Oberschenkel rauf und runter, als ob sie in eine schwere E-Gitarre drischt. Wir erkennen uns in ihr wieder, obwohl die Frau wie alle anderen auf der Bühne weder Namen noch Geschichte hat. Die Performer sind Platzhalter, Geister und Dämonen aus dem subkulturellen Unbewussten, hinübergeweht in eine Welt, die nichts mehr fürchtet als den Stromausfall. Kein Empfang. Kein Senden. Black Mirror.
Sind die Menschen mit ihren falsch gefärbten Augen und ihre falsch getönten Sätzen auch Maschinen? Ja, auch. Und trotzdem ist uns das Vokabular dieser Fremden ohne Ausweis seltsam vertraut. Gesichter drängen ins Bild und küssen die Kamera. Marionetten zappeln hin und her, Zungen fordern ihr Recht auf Auslauf. Augen verknäueln sich in der schattenrissartigen Projektion mit ihnen und sind im Realraum allein für sich. Posen werden angeboten. Die nackte Schulter, die über den Slip gezogene Hose: Sex oder Nicht-Sex, würde ein zweiwertiger Code dazu vielleicht sagen. Read my hips!
Auf der Bühne, in den Projektionen sehen wir auch an den Lips, wie das Selbst nach Regeln der Kunst um etwas bettelt: Sieh! Mich! An!!! Das Selbst weiß aber nicht, warum es angesehen werden soll. Es fühlt sich durch unseren vielleicht begehrlichen Blick nicht besser und kann doch nicht anders. Und dann wieder wird es gestalkt, belauscht, beobachtet. Können wir uns nicht einmal ohne technischen Aufzeichnungswahn unterhalten und bewegen? Nicht dort, wo Lebendigkeit ein Rohstoff ist, der immer im Überfluss parat ist und trotzdem nachgefragt wird. Ist die Lebendigkeit echt oder gespielt? Sind die tausend Tränen tief? Nächste Frage, setzen. Und zur Strafe hundert Turing-Tests statt einen Screen Test machen.
Screen Test, das hieß schon in der ersten Factory und erst jetzt in den Fabriken der Individualität immer auch: Standhalten statt Maul halten. Die Kamera kennt keine Empathie, aber es entgeht ihr nichts, was uns entgeht. Deshalb erzählt jedes Bild mehr das, was es erzählt. Zum Beispiel vom parodistischer Überhöhung: Reales Kratzen wird zum Waschzwang. Oder von Momenten, die heraustreten wollen aus der Mühle von performativer Verdichtung und Entflechtung. Menschen dürfen sich im Medienbild schon auch einmal in virtueller Schwerlosigkeit von Zwang erholen, etwas wollen zu müssen. Was ist die Sollbruchstelle der Intimität? Wann schämt sich auch das verkrachteste Party Animal vor der Technik? Machen Selfies magersüchtig?
Die Künstlerin Keren Cytter kreist mit ihrer Videohypnoseübung Ocean um einen Satz, der den Weg aus der Misere der erkalteten Glamours der Stars für 15 Likes geben könnte. Er beerbt den bohemistischen Narzissmus durch einen Konnektivismus, der von der Angst getrieben ist, den Anschluss zu verlieren. „Wenn du nicht untergehen willst, dann werde zum Ozean“, flüstert eine Stimme. Oder zum Gebirge: Eine Kamera fährt in False Colored Eyes auf Expedition in die zerklüftete Wildnis der Mundhöhle. Atome sind Sterne, es kommt nur auf den Betrachter an. Es gibt kein Innen und kein Außen, sondern nur Bewegung, Übergang und Kommunikation, die entsteht und vergeht. Man weiß nicht, ob der Zoom, das Close-Up oder die Raffinesse der verräumlichten, endlosen Multiplizierung der Körper in den exquisit fehlfarbenen Partyprojektionen den Narzissmus in grandiose Höhen geleitet oder ihn ins Nichts katapultiert. Man weiß nicht, wohin man schauen soll – auf das Dirty Vogueing, der sich der Spiegelung, Brechung und Fragmentierung durch phantasmatische Bildübersetzungen bedient. Oder auf die chimärenhaften Medienbilder, die in changierenden Farb – und Lichtverhältnisse getaucht und im Rücken der Performer einen Spuk erschaffen, der so zwischen Magie und Hyperrealismus herumwischt, wie es kein digitaler Däumling am Display hinkriegt.
Dazu klingt Musik, nicht von diesem Wellblech. I´ll be your Black Mirror. Das ist Drohung und süßes Versprechen zugleich. Die totgekuschelten und ausgelutschten Velvet Underground, skelettiert und wiederverzaubert. Irgendwann sind wir alle selbst verzaubert, und wir sehen, wie sich ein Rudel aus Menschenleibern bildet. Es wird nicht für immer zusammen bleiben.
texte
„With “False Colored Eyes, Imploding Portraits Inevitable” Chris Haring and the performer-collective Liquid Loft, once again, manage to deliver a topically charged and aesthetically convincing piece.“
Kurier / Silvia Kargl
„The real economy’s wish-processors are Warhol-2.0 weapons: to feel hip and attractive, to be present, to move like a superstar, to take the effigy’s fancies for the real deal. Liquid loft translate this sweet poison into a light-cushioned centre of close combat between the body and its favorite extensions, the cameras. […] At no point do the images calm down and a rich tapestry of sound rocks the scene.“
Der Standard / Helmut Ploebst
Liquid Loft take up this insisting gaze and, in “False Colored Eyes”, present a bizarre ego-exhibition, where the six dancers continuously stage themselves and their bodies, film themselves with cameras and literally put spotlights on each other, all the while never really seeming like they are part of this world.
APA, Austrian Press Agency
quotes
tanznet.de, 29.01.2016
/ Isabelle von Neumann-Cosel
Eine Deutschlandpremiere der besonderen Art erlebte die Hebelhalle im Rahmen der Tanzbiennale: Chris Haring und seine Company „Liquid Lofts“ zeigten ihr Stück „False Colored Eyes“ (Premiere im Vorjahr am Wiener Burgtheater). Der österreichische Choreograf – oder besser Konzeptkünstler – ist ein guter alter Bekannter des Heidelberger UnterwegsTheaters, seit er als Tänzer (in Zusammenarbeit mit Klaus Obermeier) das Kultstück „D.A.V.E“ präsentierte. Damals lernten die Zuschauer, ihren Augen nicht zu trauen – denn das von Videokunst faszinierte Duo ließ Haring hinter oder besser unter seinem eigenen Videoabbild tanzen, Original und Projektion lieferten sich einen kühnen Konkurrenzkampf.
Für den Choreografen ist klar, dass die inszenierten Abbilder diesen Kampf längst gewonnen haben, nicht zuletzt dank der Allgegenwart der Handyfotos und der Übermacht der Bilder in den sozialen Netzwerken. Jeder Akteur präsentiert sich dort, so gut er kann: shiny, sexy, toll. Und jeder Betrachter will gern dem schönen Schein glauben, nicht der Realität. Die Stars wissen, wie das geht – selbst bei Live-Auftritten werden zeitglich Videoaufnahmen auf Riesenleinwände projiziert, die im Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Zuschauer eindeutig die Nase vorn haben. In „False Colord Eyes“ führt Haring diesen Mechanismus vor. Seine fünf Protagonisten, ein sexy Partyvölkchen, wiegen sich anfangs mit lasziver Langsamkeit vor großen Videowänden. Aber so sehr eine Tänzerin auch versucht, durch das altbekannte Spiel von Entblößung und Verhüllung das Publikum zu verführen – gegen die dominanten Videobilder kommt sie nicht an.
Der optisch (und technisch) verblüffende Kunstgriff dieses Stückes ist es, dass die Videos live auf der Bühne entstehen. Zwei Kameras werden von den Tänzern selbst zentimetergenau geführt, und mobile Beleuchtungsständer können die einzelnen Körperpartien in Szene setzen. Das Zusammenspiel von Kameraführung, Licht und Bewegung wurde im anschließenden Artist Talk von der Heidelberger Tanztheaterchefin Nanine Linning bewundert. Da erklärte Chris Haring auch, welches Vorbild er für seine Demontage der schönen heilen Selbstinszenierungswelt genommen hat: Pop-Art Begründer Andy Warhol, der als erster multimediale Performances kreierte. Für seine „Screen Tests“ holte er die Stars seiner Zeit vor die Kamera – allerdings als unbewegte Standbilder. Chris Haring lässt mit den technischen Möglichkeiten von heute Kamera, Licht und Darsteller tanzen und nähert sich in Detailaufnahmen den Gesichtern immer mehr an, bis groteske Bilder von Lippenbergen und geöffneten Mundhöhlen entstehen.
Posen, Gesten, oberflächlicher Talk und Commercials suggerieren: Das Leben ist eine unaufhörliche Party; wer nicht ins (Abzieh-)Bild passt, gehört zu den Verlieren. Zum an- und abschwellenden Elektrosound, in den Andreas Berger raffiniert Referenzen an Andy Warhol gemixt hat, bleibt das Leben in diesem Stück reduziert auf eine endlose Selbstinszenierungsparty mit sexy Posen, coolen Gesten und Smalltalk. Eigentlich zum Weglaufen, aber hier natürlich zum gnadenlosen Hinschauen…
falter, 06.05.2015
Entblößungsspiel im Dauer-Loop
Das Anfangsbild ist toll: In Zeitlupe bewegen sich die Tänzer zur Musik von The Velvet Underground im Dauer-Loop. Immer wieder wird die Hose rauf und runter gezogen, ein nackter Oberschenkel kommt hervor, eine nackte Brust. So beginnt das Entblößungsspiel von „False Colored Eyes“. Die Performance ist Teil der Reihe „Imploding Portraits Inevitable“ von Liquid Loft, die Andy Warhols filmisches Schaffen und den Zwang der Selbstoptimierung in Bezug zueinander setzt. In der Choreografie von Chris Haring wird der Mund aufgerissen, der Blick der Kamera fährt bis in den letzten Winkel der Mundhöhle, die Tänzer posieren und schmusen mit dem Videogerät, bis es nimmer intensiver geht. Und was bei Warhol noch radikal privat war, ist heute wohl allgegenwärtig.
kurier, 01.05.2015
/ Silvia Kargl
Grandioses, doppelbödiges Spiel mit Selbstdarstellern aller Arten Mit „False Colored Eyes. Imploding Portraits Inevitable“ gelingt Chris Haring ein überzeugendes Stück.
Sie sind Österreichs Aushängeschild des zeitgenössischen Tanzes: Mit „False Colored Eyes. Imploding Portraits Inevitable“ gelingt Chris Haring und dem Performerkollektiv Liquid Loft einmal mehr ein inhaltlich brisantes und ästhetisch überzeugendes Stück. Die Koproduktion von ImPulsTanz, Burgtheater und Liquid Loft ist bis 13. Mai im Kasino zu sehen.
Tatsächlich sprengt das Stück, das seinen Ausgangspunkt bei Filmen Andy Warhols weiter dreht, die Grenzen zwischen Choreografie und Theater. So warten die sechs ausgezeichneten Performer Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio und Karin Pauer mit teilweise traditionellen Gesten und reicher Mimik auf, die als Kontrast zu den mittanzenden Kameras und starken Bildern überraschend aktuell wirken.
Während Warhol seinerzeit Privates und Intimes offenlegte, sind Selbstdarsteller in Selfies und diversen Medienformaten heute längst zu Hause. Da setzt Harings sehr politische Botschaft ein, die das 70-minütige Stück durchzieht.
Perfekte Fakes
Die Welt des Körperlichen ist mit Verdoppelungen, perfekt inszenierten Verfremdungen, Fakes von eingespielten Texten, die wie Sprechblasen über das Stück (Sound: Andreas Berger) hinwegfegen, und Verzerrungen nahezu erdrückend – für Ideelles und für Gefühle bleibt kaum Platz.
Die Kameras nehmen live auf und füllen somit den Bühnenraum (Lichtdesign und Szenografie: Thomas Jelinek). Sie liefern ungewöhnliche Blickwinkel auf Details und bringen eine faszinierende Theatralik ins Geschehen, ermöglichen sie doch jedem Zuschauer gleichzeitig mehrere Sichtweisen einer Situation. Die Haut, Blicke in die Mundhöhlen, unter die Achsel, auf die Fußsohlen, Augen, nichts bleibt verborgen. Intimität sowie Privatheit verschwinden und mit ihnen gleichzeitig die Fähigkeit abseits von Körperkontakten zu kommunizieren.
Haring greift dazu auch auf Zitate aus der Werbung zurück. Textbausteine und Schönheitsideale werden von den Performern wie selbstverständlich aufgesogen. Die Gesichtspflege deformiert natürliche Schönheit, und der permanente Reinigungszwang hilft auch nicht, Inneres nach außen zu kehren.
der standard, 01.05.2015
Wo das Wünschen eine Waffe lädt / Helmut Ploebst
Eine Art Factory: Uraufführung von Chris Harings „False Colored Eyes“ im Burgtheater-Kasino
Wien – Im zeitgenössischen Tanz kommen ganz verschiedene Arten von Sprache ins Spiel. Das können Sprachen von Körpern, Bildern und Licht genauso sein wie die von Klängen oder Worten. Mit diesem Spiel fordern sich der Wiener Choreograf Chris Haring und seine Gruppe Liquid Loft seit zehn Jahren konsequent heraus. Auch jetzt wieder in ihrer neuen Arbeit False Colored Eyes, die gerade im Burgtheater-Kasino als Kooperation mit dem Impulstanz-Festival uraufgeführt worden ist.
Vordergründig geht es in diesem zweiten Teil der Liquid-Loft-Serie Imploding Portraits Inevitable um die unterhaltungs- und sozialmediale Verwandlung des Menschseins. Dabei gibt es direkte Bezüge zu Andy Warhols Factory im New York der 1960er. Sechs Tänzerinnen und Tänzer, zwei Kameras plus Projektoren, Soundequipment, zwei Wände und etliche Scheinwerfer bilden die wesentlichen Elemente von Harings Bühnenapparatur. Diese produziert, mit integriertem Wunschprozessor und High-Performance-Tuner, ein Warhol-2.0-Szenario.
Realwirtschaftliche Wunschprozessoren sind Warhol-2.0-Waffen: sich hip und schön fühlen, präsent sein, sich wie ein Superstar bewegen, die Einbildungen des Abbilds für bare Münze nehmen. Dieses süße Gift überträgt Liquid Loft in ein lichtgepolstertes Nahkampfzentrum zwischen dem Körper und seinen liebsten Erweiterungen, den Kameras. Der passende Zauberspruch dazu, „Libenter homines id, quod volunt, credunt“ (auf Cäsarisch: Menschen glauben gern das, was sie sich wünschen), kommt nicht von ungefähr aus einem Buch über den Krieg.
Sinnlich und konzis zeigt False Colored Eyes, wie aus Wünschen Attacken werden. Dabei „schießen“ alle Tanzsprachen zugleich. Die Tänzer bewegen ihre Lippen zu Texten, die von einem Apparat vorgesagt werden. Die in den sozialen Medien hippe Körpersprache – Daumen rauf, Fingerherzerl, Augenblinkern, Bussimund – wird im Stück durch Tanz ersetzt. Nie kommen die Bilder zur Ruhe, und eine reiche Soundscape rockt die Szene.
Haring bringt seine Tänzer ins Vibrieren und Grimassieren oder lässt sie durch digital aufgeweichte Imitationen von Warhol’schen „Screen Test“-Filmen gleiten. In seiner „Philosophie“ schrieb Warhol einen Wunsch auf: „Ich habe als Werbegrafiker mit kommerzieller Kunst angefangen und möchte es zum Business-Künstler bringen.“ Der Warhol von heute heißt Zuckerberg. Der pfeift auf Kunst, und sein Business wird von Millionen User-Stars erledigt.
Mit den Kräften von Live-Projektion und Mischpult löst Haring die realen Körper auf und haucht ihren Video-Abbbildern Eigenleben ein. Im Gegensatz zu den satten Farben des Vorgängerstücks Shiny. shiny, das die Serie Imploding Portraits Inevitable eingeleitet hat, kommen diese Bilder fahler, gespenstisch daher. Im Dauerfeuer der Kameras werden die Tänzer zur virtuellen Munition, mit der auf die Leinwand geballert wird. Dabei entstehen schöne und beunruhigende Muster.
die presse, 01.05.2015
Achselzoom für Selbstdarsteller / Isabella Wallnöfer
Chris Haring überzeichnet in seinem neuen Stück „False Colored Eyes“ den Drang zur Selbstinszenierung. Die Avatare der Generation Smartphone lassen grüßen.
Immer näher kommt die Kamera. Sie streift mit ihrem Blick über das Gesicht, den Nacken, die muskulösen Arme, die die Haare hoch über den Kopf halten, beginnt mit unverschämter Neugier die Achselhöhle auszuleuchten, zoomt sich immer weiter heran, bis man die Vertiefung jedes einzelnen abrasierten Haares als unwirklich vergrößerten Krater auf der riesigen Videowand erkennen kann, die am Bühnenrand alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Von so intensiver Intimität fühlt man sich als Zuschauer peinlich berührt, es ist fast so, als hätte man aus Versehen im Kino den falschen Eingang erwischt und wäre in einem Pornofilm gelandet. Eine Fleischbeschau ist das hier jedenfalls, eine Zurschaustellung von Körperteilen, die bis zur Unerträglichkeit herangezoomt und ausgeleuchtet werden. Ein Achsel- und Mundhöhlenporno, der den Menschen, der hier gezeigt wird, völlig in den Hintergrund drängt, der sich angeberisch und aufdringlich auf der Videowand ausbreitet und so alle Aufmerksamkeit von den Tänzern und Tänzerinnen weg auf die virtuelle Vermittlung ihrer Einzelteile zieht – auf einen aufgesetzt fragenden Blick, ein hohles Lachen, ein hörbares Augenklimpern, gebleckte Vorderzähne, ein zitterndes rosa Gaumenzäpfchen.
Chris Haring nimmt mit seiner Compagnie Liquid Loft in „False Colored Eyes“, das am Mittwoch im Kasino am Schwarzenbergplatz Premiere hatte, die Selbstdarstellungshysterie der Generation Smartphone ins Visier. Er überzeichnet auch in diesem zweiten Teil seiner Performanceserie „Imploding Portraits Inevitable“ den durch soziale Medien wie YouTube oder Facebook geschürten Drang, ständig ein geschöntes Bild von sich selbst zu vermitteln und die Außenwelt bis zum Exzess an intimen Lebensinhalten teilhaben zu lassen. Inspiriert wurde Haring von Andy Warhols Experimentalfilmen aus den 1960er-Jahren. In seinen „Screen Tests“ porträtierte Warhol die Protagonisten mittels einer Nahaufnahme von ihren Gesichtern – drei Minuten lang ließ er die Kamera darauf, einen vollständigen Durchlauf einer 16-Millimeter-Filmrolle lang. Haring führt Warhols Idee weiter. Bei ihm wird die Kamera aktiv. Die Tänzer filmen einander oder sich selbst und spielen die Bilder, die noch näher treten als Warhol seinen Kandidaten bei den „Screen Tests“, teilweise live auf die Videowand.
Der Avatar bleckt die Zähne
Dort erstehen die Personen neu, sie wirken verfremdet, die Bewegungen von Zeitlupen, Verdoppelungen und sich wiederholenden Loops verzerrt – wie computeranimierte Avatare, die nur entfernt an denjenigen erinnern, der als Vorlage dient. Diese künstlichen Figuren auf der Leinwand stellen die Menschen bloß, die sich bereitwillig vor der Kamera räkeln, das T-Shirt hochziehen, die Zähne blecken, während aus dem Off ein amerikanischer Werbespot dröhnt. Ja, wir wollen so schön, so begehrt sein und so weiße Zähne haben, wie es uns die Werbeindustrie vorsagt! Haring überträgt das Maskenhafte dieser Videosequenzen, das dadurch verstärkt wird, dass die Tänzer immer wieder eingespielte Filmdialoge mit den Lippen nachsprechen, auf die Protagonisten. Er lässt die Darsteller technische Raffinessen übernehmen. Sie bewegen sich in Wiederholungen, scheinen abrupt einzufrieren oder pendeln steif wie die Puppen hin und her, als hätte jemand ein Stehaufmännchen angetippt. Auf dem Weg zur Selbstinszenierung ist jedes Mittel recht, und während der zur Schau gestellte Individualismus gefeiert wird, bleibt das Individuum verborgen.
tiroler tageszeitung, 01.05.2015
Neue schöne Körperwelten / Kietz
Der österreichische Choreograf Chris Haring und Liquid Loft begegnen Andy Warhol und dem Selfie-Kult der medialisierten Gegenwart.
Wien – War früher die starre Pose Ausweis und Bestätigung der eigenen, welthaltigen Existenz, so ist es heute das Posing, das einem zu Aufmerksamkeit, zu den von Andy Warhol mit Rückgriff auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren postulierten 15 Minuten Ruhm“ verhilft.
Unzählbar sind die Selbst-Zeugnisse im World Wide Web. Andy Warhols in seiner New Yorker Factory massenhaft entstandene Kurzfilme, in denen Berühmtheiten neben No-Names dem Kameraauge begegneten, dienen dem international erfolgreichen österreichischen Choreografen Chris Haring und der Gruppe Liquid Loft als Grundlage, Überlegungen zum zeitgenössischen Phänomen der allumfassenden Medialisierung in Bewegung umzusetzen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung, die Performance False Colored Eyes“, feierte am Mittwoch als Koproduktion der Truppe mit ImPulsTanz und Burgtheater an der in Zukunft offensichtlich für verschiedene Nutzungen vorgesehenen Burg-Spielstätte des Kasino am Schwarzenbergplatz ihre äußerst erfolgreiche Premiere.
Entlang von Textzitaten aus Warhols Universum zeigen die vier Frauen und zwei Männer des Ensembles zeitgenössische Verinnerlichung auf, führen die Absurdität der Tatsache vor, dass das Private des Körpers zum Medieninhalt mutiert ist. Unter äußerst präzisem Einsatz von Live-Kameras, die abwechselnd von den Performern bedient werden und mittanzen“, wie Chris Haring in einem Interview anmerkt, werden die Körper der Tänzer erfasst und gleichsam paraphrasiert. Da erinnert ein gefilmter Fuß im intuitiven Zusammenhang mit Aufnahmen des Babybauches der Tänzerin Anna Maria Nowak plötzlich an einen Embryo, ein Schlund erscheint wie eine Tropfsteinhöhle.
Doch alle diese filmischen wie auch musikalischen (natürlich Velvet Underground) perfekt eingesetzten Mittel sind nur vergleichsweise technische Elemente dieses beeindruckend stimmigen Abends. Es ist die Kopf- und Körper-Arbeit der Tänzer, die die 70 Minuten zu einem unbedingten Erlebnis machen.
wiener zeitung, 01.05.2015
Warhols Erben, die Zweite / Verena Franke
Chris Haring setzt seine Performance-Serie fort.
Der Selfiemania – die ja, unter uns gesagt, schon wieder out ist, nur wenige wissen das – widmet sich der heimische Performer Chris Haring auch im zweiten Teil seiner „Imploding Portraits Inevitable“-Serie, die am Mittwochabend Premiere im Kasino in Wien feierte. Mit „False Colored Eyes“ nach „Shiny, Shiny . . .“ steht einmal mehr Andy Warhols Schaffen Pate: Seine „Screen Tests“ sind es diesmal, eine umfangreiche Porträtserie aus 1964 bis 1966, für die Warhol Menschen in Close-up-Kameraeinstellungen drei Minuten lang filmisch fixierte und damit sehr Privates, Intimes offenbarte.
So auch Haring. Mit denselben technischen Mitteln des ersten Teils, also zwei Kameras plus Scheinwerfer, projiziert er live Close-ups seiner Performer von Liquid Loft. Da sieht man jedes feine Härchen oberhalb der Lippe oder gedoppelte Gaumenzäpfchen auf der Leinwand im Hintergrund.
Selbstdarstellung lautet das Motto, doch diesmal gepaart mit Werbung und dem Anspruch an ein perfektes Ich. Die Darsteller formen ihre Lippen zu den Texten aus amerikanischen Spots, allerdings meist asynchron. Außer: Stephanie Cumming, die einmal mehr ihre Professionalität unter Beweis stellt. Zu diesen Playbacks widmen sich – teils in Zeitlupe – die Performer ihren schwabbelnden Körperstellen oder jenen ihrer Kollegen, sie ziehen und zerren an ihrer Kleidung, wiederholen des Öfteren die gleiche Bewegungssequenz. Um sich natürlich am vorteilhaftesten ins Bild zu setzen. Optisch eindrucksvoll setzt Haring seine Inszenierung auf die Bühne, doch die Wow-Effekte des ersten Teils sind nun schon zur Gewohnheit geworden, fesseln nicht mehr.
kronen zeitung, 02.05.2015
Reisefilm durch Körperwelten
Burgtheater-Kasino: Chris Harings „False Colored Eyes“
Er entführt in eine synthetische Welt von „Fantasy-Phantomen mit paradox realen Körpern. Mutationen.“ So werden Chris Harings Figuren im Programmheft vorgestellt. Haring zeigt im Burg-Kasino die Uraufführung von „False Colored Eyes“, dem zweiten Teil seiner Trilogie „Imploding Portraits Inevitable“. Haring stößt den Zuschauer in eine bald poppig lockere, bald bedrohliche Welt der Aliens und surrealen Vernetzungen. Aus allem kann alles werden. Körper, die auf dem Boden vor mittanzenden Kameras auf Model-Art zähnebleckend posieren, sich in konvulsivischen Zuckungen wälzen, sich erotisch verschlingen, sind aber nur Abbilder. In und hinter ihnen wirken Kräfte, die nach außen dringen und in barocken Phantasien explodieren wollen.
Was die Tänzer auch tun, wird von den Kameras anvisiert und an die Wände des Bühnenraums übertragen. Das ergibt einen oft bizarr phantastischen, technisch bravourös realisierten Bildermix. Wenn etwa ein gordischer Knoten aus Körpern im Blick der Kamera zum atmenden Gebirge wird. Oder wenn ein riesiges Auge den Bühnenraum absucht und aufsaugt.
Vordringen in die Innenwelt der Außenwelt: Das ist für Haring ein Faszinosum. Anknüpfungspunkte hat er dafür in den Screen Tests Andy Warhols und Texten Stefan Grissemanns und Thomas Edlingers gefunden. Es ist wie ein Reisefilm durch Körperwelten und das Innere des Menschen. KHR
APA, 30.04.2015
ImPulsTanz – Harings „False Colored Eyes“: Das ideale, falsche Ich
Chris Haring und Liquid Loft stellen der Selbstoptimierung in sozialen Netzen Andy Warhols „Screen Tests“ gegenüber – Koproduktion mit dem Burgtheater im Kasino am Schwarzenbergplatz.
Auf der Bühne wirkt es seltsam entrückt, das ideale Ich, das Andy Warhol in den 60er-Jahren auslotete und das mittlerweile durch die Neuen Medien allgegenwärtig ist. Überdruss führt zwangsläufig zur Implosion, konstatieren Chris Haring und seine Performancegruppe Liquid Loft – und stellen dies bildstark in „False Colored Eyes“, das am Mittwochabend Premiere im Kasino in Wien feierte, unter Beweis.
Die vom ImPulsTanz-Festival und dem Wiener Burgtheater präsentierte Performance bildet den zweiten Teil der „Imploding Portraits Inevitable“-Serie, in deren Rahmen sich der österreichische, preisgekrönte Choreograf Haring und seine Truppe performativ mit dem filmischen Schaffen Warhols auseinandersetzen. Dem neuesten Stück liegen vorrangig die „Screen Tests“ zugrunde, eine rund 500 filmische Porträts umfassende Serie aus den Jahren 1964 bis 1966, für die Warhol Prominente und Normalos vor die Kamera holte, im Close-up drei Minuten lang nicht von ihnen abließ und so Intimstes offenbarte.
Liquid Loft greifen diesen insistierenden Blick auf, inszenieren mit „False Colored Eyes“ eine befremdliche Ego-Schau, in der die sechs Tänzer sich und ihre Körper unentwegt selbst inszenieren, einander mit Kameras filmen und mit Scheinwerfern beleuchten, und dabei nie so recht von dieser Welt scheinen. Zwei Leinwände grenzen die Bühne im Kasino am Schwarzenbergplatz ab, teilen das Geschehen in vier Ebenen: Da gibt es das Happening auf der Bühne, die Schatten an der rechten Wand sowie die live generierten, oft gedoppelt, verzerrt oder zeitverzögert projizierten Bilder der Performer und eingespielten Rückblenden auf der linken Wand. Visuelle Überforderung als Sinnbild für den Überdruss der Selfiekultur, quasi.
Geleitet von einem unheimlichen, teils dröhnenden Klangteppich und getaucht in wechselnde Farben, bewegen sich die Performer (darunter Arttu Palmio als schräger Warhol-Lookalike, die grandiose Stephanie Cumming und die schwangere Anna Maria Nowak) durch den Raum. Teils in Zeitlupe oder beschleunigt wird einzeln oder paarweise getanzt, gezuckt, gewackelt, Haut entblößt und verdeckt, an Kleidung gezogen und gezerrt, mit Haut und Haaren anderer gespielt, und natürlich: posiert. Durchbrochen wird die Interaktion immer wieder durch den suchenden Blick in die Kamera, die ständige Anziehung hin zum Objektiv, erst mit dem Gesicht, dann mit Körperteilen, die überproportioniert auf die Wand geworfen werden. Von schweißigen Achselhöhlen über zarte Härchen über den Lippen bis hin zum Gaumenzäpfchen fängt die Kamera das radikal Private porentief ein.
Das Ganze noch rätselhafter machen schwer verständliche Dialogfragmente u.a. aus amerikanischen Werbespots, zu denen sich die Lippen der Performer leicht asynchron bewegen. Wie Licht, Sound und Farbe ändern sich auch die Stimmungslagen der Agierenden, von sinnlicher Ruhe zu aufgesetzter Euphorie, sich steigernd zur schieren Überforderung, die sie immer wieder dem Rad der Selbstinszenierung austreten lässt. Am Schluss weichen Klangteppich und Farbsetting Stille und fahlem Licht, und scheinen die Performer verloren, nur sich selbst ausgesetzt. Statt grotesker Züge nun noch: Leere Gesichter.
Die finden sich zu diesem Zeitpunkt auch im Publikum, bei dem sich nach dem anfänglichen Staunen bereits großflächig kollektive Müdigkeit eingestellt hat. In ihrer ständigen Wiederholung ohne Höhepunkt hat die (Selbst-)Inszenierung noch vor Ablauf der 70 Minuten ihren Reiz verloren. Wohlwollenden Applaus gibt es trotzdem – und Küsse von Haring für die in ihrer Körperlichkeit und Ausdauer beeindruckenden Tänzer. pra/maf
OE1 MORGENJOURNAL, 29.04.2015
Harings „False Colored Eyes“ im Kasino / Katharina Menhofer
Wohin der Zwang zur medial geleiteten Selbstoptimierung führen kann, zeigt der österreichische Choreograf Chris Haring mit seinem Liquid Loft ab heute Abend im Kasino am Schwarzenbergplatz in Wien: Das Stück „False Colored Eyes“ ist eine Fortsetzung der Serie „Imploding Portraits“.
Das Burgtheater muss sparen, deshalb soll das Kasino am Schwarzenbergplatz künftig multifunktionaler genützt werden, nicht nur als Sitz der Jugendtheaterschmiede, sondern auch für Kooperationen wie etwa dem Volkstheater oder ImPulsTanz.
Anfang der 1960er Jahre hat Andy Warhol Künstler wie Salvador Dali, Lou Reed, Marcel Duchamps oder Bob Dylan aber auch ganz normale Menschen von der Straße vor die Kamera gebeten. Ohne irgendwelche Vorgaben hat er das unbewegte Kameraauge drei Minuten lang auf sie gerichtet und gewartet, was passiert, was das Gesicht preisgibt.
Entstanden sind daraus rund 500 schwarz-weiße Kurzfilmchen sogenannte „screen tests“, die zur Inspirationsquelle von Chris Harings neuer Arbeit wurden. „Für mich sind das choreografische Ansätze, nicht nur die Form und man sieht das Blinzeln, die Atmung, wie die vor der Kamera umgeht. Es fällt die Fassade und man sieht irgendwann in die Person auch hinein“, erklärt Haring.
Was bei Andy Warhol noch neu und subversiv war – ist heute Mainstream. Die allzeit bereite Kamera am Bildschirm und am Handy ermöglicht es der Generation Selfie, sich permanent auszustellen, darzustellen, und zu inszenieren. Sozialen Medien und Plattformen, wie Facebook oder YouTube fordern: zeig dich, sag was, mach was! Wohin dieser Zwang zur medial geleiteten Selbstoptimierung führen kann, ist Thema der neuen Arbeit von Chris Haring – die zur Serie „Imploding Portraits“ gehört und mit „Shiny, shiny …“ begonnen hat.
Geräkelt, gerieben, gewackelt, gezappelt
Das Setting auf der Bühne besteht, wie in Warhols Experimentalfilm „Chelsea Girls“, aus einer rechten und linken Leinwandhälfte, davor Mikrophone und Kameras, die von den Tänzerinnen und Tänzern permanent bedient werden. Die Projektionen geben verzerrt, zeitverzögert und manchmal unendlich vergrößert ihre Körper wider. Es wird neckisch posiert und sich geräkelt, gerieben und gewackelt, gezappelt und gekratzt und die Kamera begib sich auf Expedition durch Achselhöhlen und Zehenklüfte oder zoomt so nahe in den Rachen, dass man das Gaumenzäpfchen tanzen sieht. Die vergrößerten Nasen und Augen verschmelzen in der Projektion zu seltsamen Monstern, unterlegt von einem gespenstischen Sound.
Gegründet wurde die Tanzkompanie Liquid Loft vor zehn Jahren mit der Idee zeitgenössischen Tanz in Kontext zu anderen Kunstformen zu setzen: „Ich glaube nicht, dass es heutzutage ein ernstzunehmendes Tanzstück gibt, dass nicht gesellschaftspolitisch ist“, hat Chris Haring einmal gesagt und stellt es mit der neuen Produktion „False Colored Eyes“ einmal mehr unter Beweis. Premiere dieser Kooperation von Burgtheater und ImPulsTanz ist heute Abend.
kurier, 29.04.2015
Wenn die totale Überforderung erlaubt ist / Peter Jarolin
Choreograf Chris Haring und Liquid Loft zeigen im Kasino „False Colored Eyes“ Ein Selfie hier, ein Posting da – die neuen Medien bieten den Menschen viel Raum zur (Selbst-)Darstellung. Um genau diesen Raum und um den Menschen darin geht es in „False Colored Eyes“, dem neuen Performance-Projekt von Choreograf Chris Haring und Liquid Loft. Premiere ist heute, Mittwoch, im Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz als Koproduktion zwischen dem Burgtheater und dem Festival ImPulsTanz.
„Ich kann mich an Andy Warhol gar nicht genug abarbeiten“, sagt Chris Haring im KURIER-Interview. Und ja, „False Colored Eyes“ ist der zweite Teil der „Imploding Portraits Inevitable“-Serie, in deren Rahmen sich Chris Haring und Liquid Loft performativ mit dem filmischen Schaffen Andy Warhols auseinandersetzen.
Ausgangspunkt sind die sogenannten „Screentests“, eine von 1964-’66 entstandene Serie filmischer Porträts, bei der Prominente für drei Minuten vor Warhols Kamera standen und sich selbst optimal zu verkaufen glaubten. „Mich hat genau dieses Thema der medialen Selbstdarstellung interessiert“, erklärt Haring. „Wie setzt man sich heute optimal in Szene, wie sieht man sich selbst, wie aber sehen einen die anderen? Das sind die Fragen, mit denen wir uns in dieser Produktion beschäftigen. Bildgewaltig wird Harings „False Colored Eyes“ auf alle Fälle; Live-Kameras folgen den Performern, sollen „die größtmögliche Nähe“ zum Publikum herstellen. Denn, so Haring: „Das Kasino am Schwarzenbergplatz ist der ideale Raum, um mit Nähe und Distanz zu spielen, um mit den zwei tanzenden Live-Kameras die richtige Dynamik in den Bewegungen zu erzeugen. Und im Idealfall kommt es zur totalen visuellen wie emotionalen Überforderung. Das ist die eigentliche Vorgabe“, lacht der 2007 bei der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für die beste Performance ausgezeichnete Choreograf.
An Warhol bleibt Haring auch in Zukunft dran. „Es gibt noch so viel Material, das Thema ist so vielschichtig – da ist noch vieles möglich.“ Denn: „Warum sollten wir nicht auf der Bühne über das reale Leben nachdenken? Für viele ist das Leben ja einzige Bühne.“
profil, 27.04.2015
(profil empfiehlt)
Erstmals in die heiligen Hallen des Burgtheaters eingeladen, macht sich der Choreograf Chris Haring mit seiner famosen Truppe Liquid Loft nun an den zweiten Teil seiner Auseinandersetzung mit dem Erbe Andy Warhols: Drei Monate nach „Shiny, Shiny …“ dreht sich auch die jüngste, an körper- und filmtheoretischen Fragen orientierte Performance „False Colored Eyes“ – erneut ein Velvet-underground-Zitat – um Screen-Tests, Selbstauslotung und die Zudringlichkeit des Kamerablicks. Vier Frauen und zwei Männer überantworten sich der Live-Projektion und dem ebenso imposanten wie vielschichtigen Sounddesign Andreas Bergers: ein hochmusikalisches, der Logik des Albtraums anvertrautes, zwischen Gesellschaftsanalyse und Körperstudie schillerndes Werk.
FAQ magazin, mai 2015
FAQ Implodierende Selbstporträts – Faq Magazin
kulturzeitschrift.at, 12.06.2016
Selbstdarstellungsorgien auf faszinierende Weise hinterfragt / Peter Füssl
Liquid Loft und Chris Haring begeistern zum Abschluss des tanz ist Festivals am Spielboden.
Der österreichische Top-Choreograf Chris Haring zählt zu den Langzeit-Wegbegleitern des von Günter Marinelli konzipierten tanz ist Festivals. Mit seiner 2005 gegründeten Compagnie Liquid Loft – Österreichs vielfach ausgezeichnetem, internationalen Aushängeschild in Sachen zeitgenössischer Tanz – sorgte er am Dornbirner Spielboden schon für viele höchst außergewöhnliche, traumhafte, in jeglicher Hinsicht begeisternde Tanzabende: von „Running Sushi“ über „Talking Head“ bis zur „Perfect Garden“-Serie. So auch heuer mit der neuesten Produktion „False Colored Eyes“, einer gleichermaßen witzigen wie bitterbösen Abrechnung mit den in den neuen Medien abgefeierten Selbstdarstellungsorgien.
Zwanghafte Selbstinszenierung
Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Karin Pauer, Luke Baio und Arttu Palmio präsentieren sich und die entlegensten Teile ihres Körpers in einer vielschichtigen, siebzigminütigen Selbstdarstellungsshow, deren Handlungsstränge sich auf verschiedensten Deutungsebenen überkreuzen und durchdringen. Mit den Akteuren begibt man sich auf die Suche nach der perfekten Inszenierung, die Schein über Sein dominieren lässt, wobei zwanghaft zur Schau gestellte Coolness latente Unsicherheit nur ungenügend übertüncht. Sich im Entblößen zu verstecken, zutiefst Intimes so radikal an die Öffentlichkeit zu zerren, dass es zur Bedeutungslosigkeit verkommt, das Ego solange zu optimieren, bis es Allerweltsformat hat, das sind nur einige der Vorstellungen, die man zu den eindrucksvollen Bildern dieser Performance entwickeln kann. Egomanie und Verzweiflung gehen Hand in Hand, wenn es um die zwanghafte Selbstinszenierung zwecks lückenloser Dauerpräsenz in den sozialen Medien geht. Wenn man schon alles gezeigt hat, bleibt nur noch die Präsentation des Gaumenzäpfchens.
Mehrere Darstellungsebenen und sich permanent ändernde Perspektiven
Die realen Körper der fünf mit äußerster Präzision und großer Ausdrucksstärke agierenden Akteure stellen die unmittelbare Ebene der Performance dar, sie werden auch schattenspielartig an die rechte Bühnenwand projiziert. Gleichzeitig wird die Performance mit zwei Kameras gefilmt und die Live-Projektion mit einer Vielzahl an technischen Kunstgriffen manipuliert und in überdimensionaler Größe an die Rückwand geworfen – aufgesplittet, multipliziert, leicht zeitverzögert, rückblendenartig montiert, in extremen, manchmal gnadenlosen Close-ups verfremdet, zu Phantasie-Objekten wie einem tanzenden Zungenpaar überblendet und zusammengeschnitten. Ständig werden Scheinwerfer und Kameras in neue Positionen gebracht, und das mitreißende Spiel wird um neue Perspektiven erweitert – ein unendlicher Strom an verwirrenden Eindrücken und verblüffenden Transformationen, bis sich die Grenzen zwischen Selbstdarstellung und Selbstentblößung nicht mehr ausmachen lassen. Narzissmus und Exhibitionismus auf der einen Seite, Sensationsgeilheit und Voyeurismus auf der anderen. Liquid Loft bringt dies freilich ohne zu moralisieren, dafür mit witzigen Einfällen gespickt und einer ordentlichen Portion feiner Ironie gewürzt auf die Bühne.
Andy Warhol als Inspirationsquelle Selbstdarstellungsorgien auf faszinierende Weise hinterfragt
Chris Haring hat sich zu „False Colored Eyes“, dem Mittelstück einer Trilogie unter dem Titel „Imploding Portraits Inevitable“ von den „Screen Tests“, mit denen Andy Warhol Mitte der 60er-Jahre mehr oder weniger bekannten Celebrities zu ihren „15 minutes of fame“ verholfen hat, inspirieren lassen. Angesichts des begeisterten Applauses und der überschwänglichen Publikumsreaktionen darf man darauf hoffen, dass auch Teil drei dieser Aufsehen erregenden Werkserie bei einem künftigen tanz ist Festivals zu sehen sein wird.
vorarlberger nachrichten, 13.06.2016
Fulminantes Finale beim „Tanz ist“-Festival, in das heuer rund 150 Jugendliche aktiv eingebunden waren.
Das Bild vom eigenen Selbst, vom Gesicht und vom Körper, und wie sich dieses optimieren oder manipulieren lasst, sind Themen von enormer Relevanz, die nicht nur die Medien und die Musikindustrie beherrschen, sondern auch den Alltag von jungen Menschen sowie ihre Persönlichkeitsbildung. Der österreichische Choreograf und Tanzer Chris Haring hat sie mit seinem Ensemble Liquid Loft aufgegriffen. False Colored Eyes lautet der zweite Teil der Performanceserie lmploding Portraiß Inevitable, der kurz nach der Uraufführung in Wien nun das Tanz ist-Festivai in Dornbirn beendete.
Überraschende Nahansicht
So reagieren die Protagonisten auf ihr vergrößertes Selbst, auf die Körper ihrer Kollegen und Kolleginnen in teilweise überraschender Nahansicht, so dass sie in den Gaumenhöhlen und Schlundöffnungen der anderen scheinbar tanzen oder Auge und Zunge den Hintergrund bilden. Das alles überschreibende Thema bildet die heute allgegenwartige Selbstdarstellung in den sozialen Medien, wo von Kindheit an den anderen ein geschöntes und möglichst perfektes Körperbild vorgespiegelt wird. Ein Mechanismus, den Facebook- und lnstagram-Kenner und -Nutzer nur allzu gut kennen. Aber auch Madonna hat das in ihren Musikvideos schon vorweggenommen, als sie und ihre Crewmitglieder in Modelposen verharrten und tanzten. Abgesehen davon knüpft Liquid Loft auch souverän an die zeitgenössische Videokunst an. Pipilotti Rist, Douglas Gordon oder Barbara Kruger haben derlei Themen behandelt oder derlei Ästhetik berücksichtigt.
Es war ein wunderbares Tanz ist-Finale, das mit viel Applaus bedacht wurde und bei dem die Hochachtung des Publikums für den unermüdlichen und höchst professionellen Einsatz des Festivalgründers und -Ieiters Günter Marinelli spürbar wurde.
neue vorarlberger tageszeitung, 14.06.2016
Die getanzte totale virtuelle Selbstdarstellung / Barbara Camenzind
Das „tanz ist“-Festival tanzte mit der „False Colored Eyes“-Performance von Chris Haring und der Tanzkompagnie Liquid Loft vom Spielboden.
Günter Marinelli, künstlerischer Leiter des Vereins tanz ist, konnte zufrieden sein. Sie seien, sagt er, vor zehn Tagen gut gestartet mit Solotriologie und This is the title, den eher kleinformatigen Darbietungen. Nun sollte mit dem Burgtheater- und Impulstanz-Kooperationsprojekt False Colored Eyes der fulminante Schluss gesetzt werden.
Publikumstechnisch schien siene Rechnung aufzugehen: Das Interesse war groß, die Plätze am Spielboden waren gut besetzt. Der Einlass erfolgte erst, als die Party schon im Gange war.Inmitten von Körpern, die sich um Kameras und Regieleuchten wanden, wurde man Teil eines großen, bebenden Organismus, in dem einen schleppende, pulsierende Rhythmen wie trunken machten.
Kaleidoskop
Kaleidoskopartig auf den weißen Hintergrund projizierte Bewegungen der sechs Tänzerinnenund Tänzer entführten die Zuschauenden in die Drogenräusche der Sechzigerjahre. Und diese Vergangenheit wurde kontrastiert mit gnadenlos kalter Direktheit, die unsere Gegenwart ausmacht. Hier wurde schonungslos tänzerisch dargestellt, wie wir uns in der virtuellen Welt etblößen und teilweise auch entblöden. Plappernde Münder vor dem Kameraauge, hohle Phrasendrescherei zweier Girlies, die sich ihre Selfie-Geschichten an den Kopf werfen und einander eigentlich garnicht zuhören. Choreograf Chris Haring ging mit den Tänzern der Liquid Loft Truppe an die Grenze des Überdrusses. Dieselben stereotypen Bewegungen, das ständige Sich-An-und-Ausziehen vor der Kamera, hinter der Kamera, mit der Kamera, mit der Regieleuchte, all dies wurde mit der Zeit beklemmend – und man hatte sich mald mal daran sattgesehen. Vielleicht war aber genau das gewollt.
Die Tänzer bewegten sich das T-shirt lüftend in einer Art Niemandsland. Ja, es war tatsächlich das niemals blinzelnde Kameraauge Andy Warhols, so wie im Programmheft beschrieben, elches mit der Veröffentlichung des radikal Privaten eine Art subversive, fast skandalös neue kunstform hervorbrachte. Man fühlte sich an diesem Abend konfrontiert mit der Thematik des Pop-Art-Künstlers, die Tänzer gruppierten sich zu architektonischen Geflechten, spielten sehr schöne Zeitlupenpassagen, die mit musikalisch schleifenden Velvet-Underground-Demontagen korrespondierten, um dann plötzlich die ästhetische Distanz Warhols zu vergessen.
Da waren schmatzende Münder, Hautfetzen und Hautpartien zu sehen. Der Gipfel der Zudringlichkeit. Härchen, Lippen, Pupillen, Achselhölen, alles wurde auf der Leinwand dargestellt, dazu Fragmente aus amerikanischen Werbespots. Man wurde aus der Sixties-Ästhetik wieder gnadenlos weggezerrt, hin zur Oberfläche der zeitgenössischen virtuellen Egomanie. Ahnbar wurde die totale Nähe in großer Einsamkeit, und die Zerrissenheit von sich anspringenden und aufrappelnden Körpern wurde differenziert und präzise dargestellt.
Luke Baio, Katharina Meves, Arttu Palmio, Anna Maria Nowak, Karin Pauer und Stephanie Cumming leisteten den ganzen Abend über wahre Knochenarbeit.
Sehr physisch und prägnant tanzten sie ihre repetitiven Sequenzen, oftmals bis zur Selbstauflösung. Die Wechsel zwischen Zeitlupe, schneller Bewegung und den synchronisierten sowie live gefilmten Videosequenzen gelang ihnen virtuos und betörend. Aber wie schon geschrieben: Man hatte die Szenerie irgendwann intus. Viel Neues kam nach einer Viertelstunde nicht mehr dazu.
Bilderstrom
Der Hauptbilderstrom einer Gesellschaft, die sich gesetz- und regellos ausstellt, so wie der Flmkritiker Stefan Grissemann die Performance beschrieb, blieb irgendwann auf der Wiederholung der menschlichen Dekonstruktion bis hin zum gefilmten Halszäpfchen stehen. Trotzdem: Es war eine gute, tänzerisch anspruchvolle Darbietung. Wir Kinder der otalen virtuellen Selbstdarstellung fühlen uns ertappt.
theaterkrant, 28.08.2016
Genadeloos commentaar op de selfie-cultuur / Luuk Verpaalen
Frappant. In het programmaboekje van Noorderzon staat dat Andy Warhol de huidige selfie-explosie ‘waarschijnlijk als een soort utopia’ zou hebben beschouwd. De zin staat in een tekst die hoort bij False Colored Eyes (Imploding Portraits Inevitable). Na het zien van de voorstelling kom ik tot een diametraal tegenovergestelde conclusie. Voor Warhol zou de selfie-cultuur een gruwel zijn, veel eerder een dystopie.
De titel suggereert dat al. Die verwijst naar de serie multimediagebeurtenissen die Warhol onder de titel Exploding Plastic Inevitable vanaf 1966 organiseerde. Choreograaf Chris Haring lijkt in False Colored Eyes vooral te focussen op de screenings die tijdens die evenementen werden gehouden. In tegenstelling tot de selfie-cultuur van tegenwoordig ging het bij Warhols portretten nooit om ‘zo mooi mogelijk’ maar om ‘zo echt mogelijk’.
Er heeft een essentiële verschuiving plaatsgevonden van ‘wie ben ik?’ naar ‘hoe ziet mijn beeld eruit?’. Het optimisme van Warhol, waarbij iedereen voor vijftien minuten een ster kon zijn, heeft plaatsgemaakt voor een narcistische overvloed. En juist dat laat deze overrompelende show zien.
Het begint in een kalm slowmotion waarbij elke danser van de ene pose naar de andere glijdt. Totdat er tergend langzaam een ritme hoorbaar wordt en een danseres zich van de anderen losmaakt. In een razendsnelle opeenvolging van bewegingen persifleert ze de sexy houdingen die zo populair zijn op een site als Instagram. T-shirt omhoog, broekje half naar beneden. Alleen de verleidelijke blik ontbreekt.
Die blikken krijgen we later. Levensgroot in split screen geprojecteerd op de achterwand. De op het toneel aanwezige camera’s, bediend door de dansers zelf, brengen details in beeld die je misschien liever niet zag. Met ultra close-ups wordt er genadeloos ingezoomd op de lijven van de dansers. Nog intiemer wordt het als de camera’s naar binnen lijken te gaan in twee wijd opengesperde monden.
Door de split screen lijken lichamen te vervloeien. En door de projectie mee te nemen in een shot ontstaat er een droste-effect: de vijf dansers worden een menigte. Het is een psychedelische beeldenvloed die Haring ons hier voortovert, met camera’s die dansers geworden zijn, camera’s die vervormen. Een genadeloos commentaar is het ook, op de doorgeschoten selfie-cultuur waarin iedereen denkt even een ster te kunnen zijn. En daarom zou het Warhol een gruwel zijn: waar hij in zijn screentests individuen nog tot kunst verhief door ze te laten zien hoe ze werkelijk zijn, is de huidige selfie-mens een inwisselbare geworden.
reviews
die presse, 28.04.2015
„Ich mag dieses Hyperlink-Denken“ / Isabella Wallnöfer
Performance. Choreograf Chris Haring hat sich für sein neues Stück von Andy Warhol inspirieren lassen: Es geht um Selbstdarstellung, Identitätssuche und Schnelllebigkeit.
Dass gerade eine Pop-Art-Ausstellung mit Werken von Andy Warhol im Mumok läuft, sei reiner Zufall. Ein Besuch von „Ludwig Goes Pop“ könne als Vorbereitung für „False Colored Eyes“ aber nicht schaden, findet Choreograf und Liquid-Loft-Gründer Chris Haring. Sein Stück, das am Mittwoch in Wien uraufgeführt wird, setzt sich performativ mit dem Filmschaffen Warhols in den 1960er Jahren auseinander.
Die Presse: Worum geht es in „False Colored Eyes“?
Chris Haring: Es geht um die Selfie-Kultur, die Selbstoptimierung in der Zeit der neuen Medien. Durch Facebook oder YouTube bekommen jetzt Menschen öffentliche Aufmerksamkeit, die sie vorher in dieser Form nicht bekommen hätten. Plötzlich verbreiten sich Eigenheiten, die Jugendkultur sucht ja immer nach Vorbildern. Heute hat man mehr Möglichkeiten in dieser Identitätssuche. Damit muss man als Rezipient aber auch umgehen können.
Ja. Ich mag dieses Hyperlink-Denken. Früher habe ich ein Buch gelesen, da war logisch eins nach dem anderen. Wenn ich heute auf Wikipedia auf einen Link klicke, bin ich sofort in einem völlig anderen Universum.
Glauben Sie, dass das unsere Art des Denkens beeinflusst, unsere Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber?
Das versuchen wir mit unserer Arbeit herauszufinden. Ich war schon immer total begeistert von Cyberpunk-Ideen: Hier bin ich Pizzaverkäufer, drüben bin ich der größte Schwertkämpfer aller Zeiten. Aber alles, was uns die Science-Fiction in den 1990ern und schon davor versprochen hat, hat sich in der Art und Weise nicht verwirklicht. Wir dachten an Cyborgs, bei denen ein neuer Arm angeschraubt wird. Stattdessen werde ich neu gebaut, neu gebrütet oder neu gentechnisch manipuliert. Das finde ich im choreografischen Denken großartig, weil das sind ja alles Bewegungsanweisungen.
Sie haben sich für „False Colored Eyes“ von Andy Warhol inspirieren lassen.
Was von seiner Arbeit ist heute noch gültig?
Liquid Loft wurde 2005 mit dem Vorhaben gegründet, zeitgenössischen Tanz auf der Bühne immer in den Kontext anderer Kunstformen zu stellen, und Pop-Art war dabei von Anfang an für uns inspirierend. Im konkreten Fall beziehen wir uns auf Warhols filmisches Schaffen, vor allem die „Screen Tests“ oder Filme wie „Chelsea Girl“, bei denen er noch selbst mit der Kamera gefilmt hat.
Und was hat Warhol mit Tanz zu tun?
Warhol inszeniert Körperlichkeit. Bei Filmen wie „Screen Tests“, „Sleep“, „Eat“ oder auch „Blow Job“ bleibt er lang auf einer Sache drauf. Er legt sehr wenig Wert auf narrativen Inhalt, sondern denkt eher assoziativ. Als Betrachter kommt man so unweigerlich auf die Körperlichkeit, die Rhythmen zurück, die die einzelnen Personen haben, auf die Mimik und Gestik. Das sind aus heutiger Sicht sehr choreografische Arbeiten.
Wie haben Sie Ihre Eindrücke verarbeitet?
Bei „Chelsea Girls“ hat Warhol als einer der Ersten den Splitscreen eingesetzt: Es laufen zwei Filme gleichzeitig. Durch den Kontrast der Bilder entstehen Rhythmik, Körperlichkeit, Geschwindigkeit, eine bestimmte Filmästhetik. In unserem Stück gibt zwei große Videoscreens, die Performer haben Kameras, deren Videos werden live auf die Screens projiziert. Was man im Kino oder Fernsehen einsetzt, wie das Zoomen, schnelle Schwenks, Schnitte, fast forward und rewind – das sind alles Parameter, die man auch im zeitgenössischen Tanz sehr stark verwendet.
Haben sich die Bedeutung des Körpers und wie man ihn darzustellen versucht seit den 1960er-Jahren Andy Warhols verändert?
Die Gadgets haben sich verändert. Aber den Drang zur Selbstdarstellung, den wir in „False Colored Eyes“ thematisieren, kann man durchaus vergleichen. Es geht uns um die Selbstoptimierung, die derzeit in den neuen und den sozialen Medien herrscht. Das war für mich der Link zu Warhol und seinen Kunstfiguren. Ich habe immer geglaubt, er hat diese Stars gemacht, hat die hochkatapultiert – aber eigentlich hat er ihnen nur die richtige Bühne geboten, und die haben sich einfach selbst gespielt.
Das, was heute jeder auf Facebook oder YouTube machen kann.
Ja, da findet man sehr viele dieser Selbstoptimierer. Im Film hat Warhol diese Personen über lange Zeit festgehalten, obwohl sie teilweise nur kurze Zeit Stars waren – diese Schnelllebigkeit steht im Kontrast zum Drang, sich verewigen zu müssen. Das ist eine alte Sehnsucht des Menschen, ich glaube, wir haben da alle einen Knall: Vergesst mich nicht! Unsterblichkeit war immer etwas Großes.
der standard, 27.04. 2015
Chris Haring: „Die Kameras tanzen mit“ / Interview vonHelmut Ploebst
Andy Warhol steht im Fokus von Chris Harings jüngstem Stück „False Colored Eyes“. Die am Mittwoch im Burgtheater-Kasino uraufgeführte Choreografie hat der Wiener als Auseinandersetzung zwischen Körper und Medien entwickelt
STANDARD: Ihre neue Stücke-Serie „Imploding Portraits Inevitable“ bezieht sich auf Andy Warhols „Exploding Plastic Inevitable“, eine Reihe hipper Club-Events in New York von 1966/67. Was ist daran interessant?
Haring: Das waren die ersten Medienevents der Clubkultur. Velvet Underground hat das erste Mal gespielt, die Leute wurden mit Stroboskoplicht und mit Filmprojektionen überfordert …
STANDARD: Warum sind für Sie auch Warhols „Screen Test“-Filme wichtig?
Haring: Wegen des Links zu den heutigen sozialen Medien: Die dort praktizierte Form der Selbstdarstellung kann sich nicht mehr selbst optimieren, denn mittlerweile gibt es unzählige Plattformen, und du wirst immer auf dasselbe zurückfallen. In den Screen Tests brachte Warhol die Selbstdarstellung auf die Ebene der Kunst und gab den Personen den Platz dafür, zu sein, was sie sind.
STANDARD: Wie kommt es von Warhols Explosion zu Harings Implosion?
Haring: Exploding Plastic Inevitable, die Screen Tests und Filme wie Chelsea Girls sind historische Beispiele für die aktuelle Selbstoptimierung in den neuen Medien – beides führt zu einem Überquellen. Und wenn ein System überquillt, aber nach außen keinen Platz für eine Explosion hat, muss es implodieren. Daher Imploding Portraits …
STANDARD: Ihre Gruppe Liquid Loft gibt es jetzt seit zehn Jahren. Hat die Geburt nicht unter einem Science-Fiction-Stern stattgefunden?
Haring: In den 1990-er Jahren hat man noch an kybernetische Organismen geglaubt. Diese Auseinandersetzung mit Science Fiction ist seitdem fast aufgegeben worden, weil es heißt, wir sind eh schon genmanipulierte Cyborgs, die neue, künstliche Dinge wachsen lassen. Wir haben es uns einfach gemacht: das System nicht verändert, sondern nur die Werkzeuge ausgewechselt.
STANDARD: Ist Ihre neue Stücke-Serie mit der vorangehenden, „The Perfect Garden“, verbunden?
Haring: Die stärksten Verbindungen sind das Vergängliche – wie es sich auch in Warhols 15 minutes of fame widerspiegelt – und das Unvermeidliche („inevitable“): das Altern des Körpers genauso wie das Verpuffen der performativen Kunst. Man kann dokumentieren, wie man will, aber was man als Tänzer auf der Bühne erlebt, lässt sich kaum festhalten. Warhol konnte seine Zeit extrem gut verwerten, und das kann fast eins zu eins in die Gegenwart übersetzt werden. Bei False Colored Eyes werden zwei Livekameras eingesetzt – um zu vergrößern und um bestimmte Perspektiven zu zeigen, die die Performer sehen, das Publikum aber nicht. Die Kameras tanzen mit.
STANDARD: Wie kommt es zu der Zusammenarbeit mit dem Burgtheater?
Haring: Den vom Burgtheater betriebenen Raum im Kasino fanden wir schon immer toll. Zudem gibt es eine Kollaboration des Burgtheaters mit dem Impulstanz-Festival.
STANDARD: Ist das wie zuvor bei der Needcompany mit einer Residency verbunden?
Haring: Ich glaube, es ist ein Anfang. Ich kann mir vorstellen, dass das, wenn es jetzt funktioniert, weitergeht, und zwar nicht nur mit uns. Wir sind keine Tanztruppe im klassischen Sinn, sondern arbeiten viel mit Sprache und Stimme. Dadurch sind die Berührungsängste etwas kleiner geworden. Für mich ist das logisch. Es wird sowieso in jeder Richtung übergreifend gearbeitet.
STANDARD: Wie hat sich der Tanz seit Mitte der Nullerjahre verändert?
Haring: Man hat inhaltlich nach gesellschaftlichen Stereotypen gesucht, um sich dazwischen positionieren zu können. Jetzt geht es wieder an die Ränder. Jenseits der Positionierung als Mann oder Frau geht man über alle körperlichen Grenzen hinaus bis dahin, etwa ein Möbelstück zu werden – so wie die Künstlerin Jakob Lena Knebl. Bühnentanz war ja ursprünglich abstrahierte Bewegung. Verglichen mit der bildenden Kunst: Abstrakte Bilder wären im 20. Jahrhundert ohne Wissen, worum es geht, nicht lesbar gewesen. Im Tanz ging es aus der Abstraktion ins Konkrete, aber wenn es dort bleibt, verliert die Kunstform ihre Motivation. Ich kann mir vorstellen, dass man 2015 ein Bühnenstück ganz anders rezipiert als 2009 oder 2006.
STANDARD: Wieso?
Haring: Durch die Art, wie wir Neue Medien und Gadgets nutzen. Bühnenkunst hat immer noch etwas mit Repräsentation in unserer Alltäglichkeit zu tun. Wenn in den 1990er-Jahren mit einer Kamera auf der Bühne gearbeitet wurde, galt das damals als „Multimedia“. Jetzt hat es nicht mehr dieselbe Bedeutung und wäre so, als würde ich für die Jugend, die mit der Handykamera aufwächst, ein Stück mit Kerzenlicht machen.
STANDARD: Was fehlt heute im Tanz?
Haring: Ich vermisse die lauten Persönlichkeiten in der Szene. Die Pioniere, die sich für ein Tanzhaus eingesetzt haben und dergleichen. Man hat Alternativen gesucht und sich irgendwie geeinigt. Ich glaube, zu früh. Für mich ist die Szene ein kleines Universum, in dem Politiker, Organisatoren, Networker, Choreografen, Kritiker, Publikum und natürlich die Tänzer beziehungsweise Performer zusammenarbeiten sollten. Kulturpolitisch wird dieses Universum leider nur kategorisiert, in eine bestimmte Schublade gesteckt. Das geht mir auf die Nerven.Vor zehn Jahren konnte ich als Choreograf ein Hörspiel machen und war trotzdem Choreograf. Jetzt, habe ich das Gefühl, will man wieder einteilen und sortieren.