IN MEDEAS RES

Premiere im Rahmen von IMPULSTANZ Vienna International Dance Festival 2024

In dem antiken Rachemythos der gottverlassenen, an der Welt verzweifelnden Medea verbirgt sich eine ins Abgründige gewendete Erzählung von weiblicher Entschlossenheit und Selbstermächtigung. Medea setzt sich zur Wehr, in aller Konsequenz, nimmt den erbitterten Kampf gegen die Fremdbestimmung durch ihren Mann auf, lässt nicht zu, dass über sie hinweggegangen wird. Sie kommt, dem Titel des Abends entsprechend, augenblicklich zur Sache. Liquid Loft nähern sich dieser Figur in assoziativer Form und mit einer frappierenden Doppelbesetzung: Die offene Charakterstudie, die in der Interaktion von Hannah Timbrell und Dong Uk Kim entsteht, baut auf das Wechselspiel von Verschmelzung und Distanznahme, von Zwillingsbindung und Selbstauflösung. Die Risse, die sich in der Symbiosenwand dieses doppelköpfigen und zweigeschlechtlichen Wesens ausbreiten, besiegeln dessen Schicksal. Fragmente einer Chronologie des Untergangs.

Die filmische Medea-Exkursion des Regisseurs und Theoretikers Pier Paolo Pasolini anno 1969 – in der Titelrolle: Opern-Superstar Maria Callas – hat dieses Projekt gedanklich-konfrontativ in Bewegung gesetzt: In Medea treten Rationalismus und Animismus, Technik und Tribalismus gegeneinander an, werden archaische (Klang-)Kulturen mit den Vernichtungskräften des Materialismus konfrontiert.

Die Macht der Magie und die Souveränität der Imagination umgeben und definieren die Gestalt der Medea. Insofern bestimmen Zauber und Phantasmagorie auch die Form dieses Abends. IN MEDEAS RES vertraut auf die Polyvalenz ineinander kippender Bilder – es sind tatsächlich: Kipp- und Vexierbilder,
auf vielfache Weise lesbare Szenen und Ansichten, optische Täuschungsmanöver – sowie auf eine Reihe entscheidender Requisiten: Die Objekte der Künstlerin Patrizia Ruthensteiner komplizieren als Skulpturen, Klangkörper und physischen Erweiterungen die semantischen Angebote beträchtlich, sie sind Bühnen- und Videobild, als Texturen, Instrumente und Gewebe zu benutzen. Auch diese Objekte sind animistisch gedacht, erscheinen buchstäblich „beseelt“, verleihen IN MEDEAS RES einen installativen und eben zugleich volatilen Charakter: Medea in situ. Es ist ein mentaler Raum, den die choreografierte Doppelfigur hier bespielt wie die zerklüfteten Schauplätze ihrer eigenen Psyche. Hier verliert und radikalisiert sich Medea, hier durchleidet sie ihren Furor, ihre Einsamkeit. Die lebenden Bilder dieser Arbeit basieren auf einer Choreografie der Verwandlung. Die beständigen Transformationen, die sich aus der Fluidität der Körper und der Dinge ergeben, besitzen eine vage futuristische Energie, die eine Erzählung von gegenwärtigen und künftigen Macht- verhältnissen, Migrations- und Spiritualitätsbewegungen voranzutreiben scheint.

„Wie lebst du in den Trümmern deines Leibs?“, fragt die Figur der Medea in Heiner Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982), und die Frage ist zulässig, denn die Physis der Menschen ist, wie ihre Psyche, brüchig – und damit aber auch: (ver)wandelbar.
Stefan Grissemann

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18.10.2024 - 20.10.2024
Wuzhen Theatre Festival, China
14.09.2024

transart Festival Bozen/ Bruneck, IT

20.07.2024

IMPULSTANZ Vienna International Dance Festival, Künstlerhaus Vereinigung/ Factory

19.07.2024

IMPULSTANZ Vienna International Dance Festival, Künstlerhaus Vereinigung/ Factory

18.07.2024

IMPULSTANZ Vienna International Dance Festival, Künstlerhaus Vereinigung/ Factory

17.07.2024 (premiere)

IMPULSTANZ Vienna International Dance Festival, Künstlerhaus Vereinigung/ Factory

dates

Tanz, Choreografie: Hannah Timbrell, Dong Uk Kim
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Choreografische Assistenz: Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Luke Baio
Komposition, Soundkonzept: Andreas Berger
Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek
Klangobjekte, Ausstattung: Patrizia Ruthensteiner
Stimme, Textaufnahmen: Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Luke Baio
Dramaturgie-/Regieassistenz: Judith Thaler
Theorie, Text: Stefan Grissemann
Stage Management: Roman Harrer
Company Management: Cornelia Lehner
Kostüme: Patrizia Ruthensteiner, Stefan Röhrle
Set Design: Franziska Zauner
Videodokumentation: Michael Loizenbauer, Judith Thaler
Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent

credits

WIEN/ ImPulsTanz: Liquid Loft mit „IN MEDEAS RES“

Filigran, zerbrechlich wirkt das Setting, in das Chris Haring gemeinsam mit den beiden TänzerInnen Hannah Timbrell und Dong Uk Kim seine neueste, hier uraufgeführte Arbeit hinein choreografierte. Aufgehängte hautfarbene Fetzen, davor stehen Objekte von Patrizia Ruthensteiner. Sie erinnern an für menschliche Köpfe kunstvoll gestaltete Greifvogel-Masken, erweitert um bei Bewegung zischende Antennen, einen blubbernden Becher oder rasselnde Spiral-Federn.

Haring ließ sich für seine Medea inspirieren von der Darstellung dieser Figur in Pierre Paolo Pasolinis Film „Medea“ von 1969, in dem dieser die Hauptrolle mit der Sopranistin Maria Callas besetzte, die in dem Film jedoch keinen einzigen Ton singt. Gefragt war ihre Fähigkeit zur expressiven, dennoch feinfühligen Darstellung komplexer Charaktere. Chris Haring interessiert die mit gewaltigen inneren (und äußeren) Konflikten kämpfende Figur der Medea. Das Sperrige und die fragmentierte Erzählweise des Films prägen auch „IN MEDEAS RES“.

Eingespielte Gesprächsfetzen. Das Paar plaudert über die Zerlegung des Körpers, über die Projektion der Idee von jemandem, über Angst und Trauma, über das Töten im Traum und fragt am Ende: „Wie alt ist diese Geschichte?“ Der Sound von Andreas Berger, viel aus dem Off kommend, mit drohenden, dann chaotisch kreischenden Klangwolken, mit dem Eigenklang der Objekte – auch die gequälte Erde lässt er mit durch die PerformerInnen gedehnten Spiralfedern am Boden stöhnen – bis zum Song einer Singer-Songwriterin am Ende gibt Vieles an inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten dazu.

Mit Live-Video und wirkungsvoll eingesetzten Lichteffekten (Licht und Bühnenbild: Thomas Jelinek) – einmal strahlt Don Uk Kim sein Gesicht von unten an, dass es auf die Rückwand projiziert erscheint wie eine leere Maske – erzählt das Stück auf einer weiteren Ebene von den die nur imaginierte Hauptfigur zerreißenden inneren Konflikten, deren Darstellung durch die beiden herausragenden TänzerInnen trotz aller gestischen Abstraktion eine emotionale Wirkung erzeugt.

Chris Haring taucht mit dieser Arbeit tief ein ins Unbewusste. Die Dissoziation der Persönlichkeit der Medea (in einem weiblichen und einen männlichen Teil) ist der Rettungsanker, der ihr das psychische Überleben ermöglicht. Jene Spaltung ist zudem ein starkes Bild für die Fülle an psychischen Aspekten, die ihr Recht auf ein gelebt Werden kraftvoll anmelden. Die männliche Seite krampft, leidet unter sich, ohne in die Emotion einzutauchen. Anders das Weibliche, das diese auslebt. Ihre Ehrlichkeit ist die Basis für potentielle Heilung.

Ausgeprägte Sensibilität, durch die sich’s lebt wie mit abgezogener Haut, macht verletzlich. Sie ist andererseits eine ungeheure Kraft, der sich die doppelgesichtige Hauptfigur in diesem Stück bedient. Haut spielt eine wesentliche Rolle. Einerseits als vom Körper losgelöstes, abgesetztes Objekt, womit sich die Grenzen zwischen Außen und Innen auflösen mit der Konsequenz gesteigerter Vulnerabilität, andererseits als Co-Performer, dessen Dehn- und Formbarkeit Möglichkeiten für neue, andere Identitätsentwürfe schafft.

Auch hier tanzen Körper als physische Repräsentanten archivierter und momentaner psychischer Ereignisse. Die beiden PerformerInnen Hannah Timbrell und Dong Uk Kim erweisen sich mit ihrer Reife, Ausdrucksstärke, Präzision und darstellerischen Potenz als ideale Besetzung. Ihren Job als BühnenarbeiterInnen – die Objekte, Kameras und Lichtquellen sind vielfach umzuordnen und zu steuern – beherrschen sie souverän.

Der Animismus der Rolle der Medea in Pasolinis Film wird in eigensinnig poetische, durch ihre Abstrahiertheit und Mystik nicht eben leicht lesbare Bilder übersetzt. Die Ästhetik des Stückes ist eine Liquid Loft’sche. Sie funktioniert. Die dramaturgischen Brüche sind die in der Persönlichkeit der Medea. Das Stück erzählt von bereitstehenden kulturellen, medialen und gesellschaftlichen Angeboten für Maskierungen, die ihrerseits ein Eigenleben entwickeln und damit eine toxische Eigendynamik entwickeln, die den Maskierten um so weiter von sich entfernt. Die ewige Aktualität des Stoffes, seine Bedeutung für den Zustand der Welt, weil in soziale Beziehungen, in die Gesellschaft und damit in die Politik hinein wirkend, kann nicht überschätzt werden.

Chris Haring erschließt sich mit diesem Stück eine neue Dimension an Tiefe. Er geht über die Darstellung des Leidens an sich selbst, das die Kompanie in einer Reihe von Stücken der vergangenen Jahre ausgiebig und ortsspezifisch variiert feierte, hinein in eine Untersuchung der Ursachen desselben. Und sogar noch weiter. Am Anfang von „IN MEDEAS RES“ standen die beiden TänzerInnen nebeneinander, mit dem Rücken zu uns, am Ende sich gegenüber. So funktioniert psychische Evolution. Das Anschauen unbewusster Aspekte seiner selbst und die bewusste, bewertungsfreie Integration in seine psychische Gesamtheit ist entscheidend für einen Heilungs- und Wachstums-Prozess. Im Kleinen wie im Großen.

Liquid Loft mit „In Medeas Res“ am 17.07.2024 in der Künstlerhaus Factory Wien im Rahmen von ImPulsTanz. Weitere Vorstellungen: 18., 19. und 20. Juli 2024.

Rando Hannemann, onlinemerker.com

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