les ballets de monte-carlo

sacre - the rite thing

“Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird”  E. Jünger

Seit fast einem Jahrhundert wird auf internationalen Tanzbühnen immer wieder jenes Ritual vollzogen, das unweigerlich in den Tod führt und trotzdem von jedem/er Solisten/in getanzt werden will. Der Preis ist hoch, denn der oder die Auserwählte wird dabei geopfert bzw opfert sich selbst, um einen fruchtbaren Frühling einzuleiten.

In The Rite Thing wird das Ritual nach Warhol’scher Manier entzaubert, indem es das Verzaubernde auf unterschiedliche Weise mimetisch wiederholt. Basierend auf dem reproduzierten choreografischen Originalmaterial von Le Sacre du Printemps und der persönlichen Geschichte Nijinskys inszeniert Liquid Loft mit Tänzern des Balletts de Monte Carlo beeindruckende Ready Mades, die als Speicher vergangener choreografischer Intentionen im veränderten Kontext wiederentdeckt und in zeitgenössische Strukturen verwoben werden. Der Tanz als Imitation des Wandels, das Opfer als Instrument der Angleichung durch Vergeltung am Unschuldigen, das sind die archaischen Mittel mimetischer Praxis in dieser Inszenierung.

photos: c. haring

Die aktuellen Positionen im zeitgenössischen Tanz sind, was ihre Bewegungssprache und ihre Arbeitsweisen betrifft, vom Ballett weiter entfernt denn je. Formulierten sich ästhetische Konzepte in der Moderne noch in Opposition und Abgrenzung zu einer jeweiligen Tradition, ist das Ballett dem zeitgenössischen Tanz als willkommener Gegner für den eigenen Distinktionsgewinn schlicht verloren gegangen. Als historisches Material sind die Formen des Balletts um so mehr von Interesse. Liquid Loft versucht diese mittlerweile fremde Tanz-Sprache mit dem heutigen Wissen, der Bewegungserfahrung und dem Formenvorrat des zeitgenössischen Tanzes neu zu lesen und zu analysieren.

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Hundert Jahre nach der Gründung von Les Ballets Russes durch Sergei Pawlowitsch Djagilew (1872-1929) kooperiert Liquid Loft mit Les Ballets de Monte Carlo, einem Ort, der Djagliews Compagnie zeitweilig beherbergt hat und an dem bedeutende Choreografen, die aus Les Ballets Russes hervorgegangen sind, dessen Tradition über das 20. Jahrhundert hinweg weitergeführt haben. Von besonderem Interesse für Liquid Loft ist die starke Affinität des Ballets Russes zu zeitgenössischen Positionen in der Bildenden Kunst, die den Tanz ins Zentrum moderner Kunstentwicklung geführt hat, ja zu einem Motor der moderne überhaupt gemacht hat. Djagliew hat durch die Zusammenarbeit mit prägenden Bildenden Künstler Tanz und Tänzer in immer wieder neuen und ungewöhnlichen visuellen Kontexten aufscheinen lassen.

Diese historische Wirkung nährt das Interesse an Les Ballets Russes und erweist sich als affin zur bisherigen Arbeitsweise von Liquid Loft.  Durch akustische Dislozierung wird bei dieser Zusammenarbeit der Blickwinkel auf angewandte Formen des zeitgenössischen Balletts verändert. Elemente originaler Bewegungssequenzen Nijinsys werden im veränderten Kontext wieder neu und auf ungewöhnliche Weise erfahrbar.

texte: chris haring, uwe mattheiss  

22.07.2010

ODEON Theater, Wien

21.07.2010

ODEON Theater, Wien

20.07.2010 - 26.08.2010

ODEON Theater, Wien

19.07.2010

ODEON Theater, Wien

14.07.2010

Monaco Opera, Salle Garnier

13.07.2010

Monaco Opera, Salle Garnier

dates

Künstlerische Leitung, Choreographie: Chris Haring
Choreographische Assistenz: Stephanie Cumming
Tanz, Choreographie: April Ball, Gioia Masala, Quinn Pendleton, Olivier Lucea, Gaetan Morlotti, Chris Roelandt, Giovanni Mongelli
Sound, Komposition:
Andreas Berger (Glim)
Licht, Set Design: Thomas Jelinek
Kostüme:
Liquid Loft, Dancers & Jean-Michel Lainé
Produktion: Marlies Pucher
Text, Theorie: Nicole Haitzinger, Fritz Ostermayer
Übersetzungen: Martina Hochmuth, Oliver Stummer
Video: Ella Esque, Michael Loizenbauer

Eine Koproduktion von Les Ballets de Montecarlo, ImPulsTanz Vienna International Festival und Liquid Loft. Basierend auf originalen choreographischen Sequenzen von Vaslav Nijinsky rekonstruiert von Millicent Hodson und Kenneth Archer

Première am 13. Juli 2010, Salle Garnier, Opéra de Monte-Carlo
Österreichpremière 19. Juli 2010, Odeon, ImPulsTanz Vienna Int. Festival 

credits

la patriote, 25.6.2010

Il ne faudrait pas oublier l’inclassable Chris Haring, Lion d’or à Venise et sa pièce „hors norme“, loin des codes du ballet traditionnel.

der falter, 7.7.2010

Mit Ballett hat das herzlich wenig zu tun. Ein Gespräch mit dem Choreografen Chris Haring, der in Monte Carlo seine Version eines Ballettklassikers erarbeitet hat. | Interview: Bettina Hagen

Kaum ein Stück der Tanzgeschichte hat so viele Interpreten auf den Plan gerufen wie das 1913 am Vorabend des Ersten Weltkrieges entstandene Le Sacre du Printemps zur Musik von Igor Strawinsky. Zum 100-jährigen Jubiläum der Ballets Russes hat nun auch der österreichische Choreograf Chris Haring mit Tänzern des Balletts von Monte Carlo eine Sacre-Version einstudiert. Wenige Tage nach der Uraufführung in Monaco ist The Rite Thing bei ImPulsTanz zu sehen, gemeinsam mit Daphnis et Chloé von Jean-Christophe Maillot.

Falter: Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Und wie wurden die Tänzer ausgewählt?

Chris Haring: Der künstlerische Leiter des Balletts, Jean-Christophe Maillot, lädt immer wieder Choreografen zur Zusammenarbeit ein. Anlass war in dem Fall das Anniversary der Ballets Russes, das ja eng mit der Geschichte des Balletts in Monaco verbunden ist. Außerdem wollten wir nach den Erfahrungen mit dem chinesischen Jing Xing Dance Theatre im Vorjahr wieder zu dem uns fremdesten Tanzmetier gehen. Maillot hat dann ein gutes Händchen bei der Vorauswahl der Tänzer bewiesen; schließlich stehen die Tänzer bei uns als Persönlichkeiten und nicht als Ballettensemble auf der Bühne. Die Tänzer sind dann auch so um die 40 und stehen gerade am Höhepunkt oder am Ende ihrer Karriere. Maillot versteht es, eine herzliche Stimmung zu verbreiten, sodass einige der Tänzer schon seit 13 Jahren beim Ensemble sind.

Und warum gerade Sacre? 

Haring: Eigentlich war das fast vorgegeben. Ich habe mich durch die Ballets-Russes-Stücke durchzuackern versucht, und da kommt man unweigerlich zu Sacre. Unser Titel The Rite Thing bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir machen das jetzt auch. Aber am spannendsten finde ich den direkten Bezug der Ballets de Monte Carlo zu den Ballets Russes. Die sieben Tänzer, die bei mir auftreten, haben im Vorjahr auch die Rekonstruktion getanzt. Sie haben über Jahre hinweg recherchiert, Fotos gesammelt, die Aufzeichnungen von Nijinsky studiert. Ihre Körper haben die Bewegungen abgespeichert, und ich hab sie einfach gebeten, mir die Schritte aus dem Stegreif heraus noch mal zu zeigen. Dabei wurden sie mit Fehlern und Stolpern aufgenommen, das ist unser Material, unsere Readymades.

Sie arbeiten dieses Mal also nicht mit akustischem Material, sondern mit choreografischem. Spielen die Originalmusik und das Bühnenbild eine Rolle? 

Haring: Es stimmt, dass wir diesmal nicht unsere Dubbing-Methode anwenden. Trotzdem spielen wir mit den Stimmen der Tänzer. Andi Berger hat eine geniale Zusammenstellung erzeugt. Minimalistische Strawinsky-Klänge werden mit Soundmaterial etwa den Schritten der Tänzer verwoben. Jeder hat das Sacre sowieso im Ohr, da kommen dann gleich auch die eigenen Erinnerungen dazu. Wir haben versucht, das Stück mit großem Respekt zu behandeln; trotzdem wollen wird den Eindruck des Verstaubten vermeiden und haben sogar so etwas wie einen Popsong hineingeflochten. Der erste Teil ist der Rekonstruktion gewidmet, der zweite Teil ist die Interpretation in der Jetztzeit. Die Bühne kommt wieder von Thomas Jelinek und ist wie ein Computerscreen aufgebaut.

Man wird Ihre Methode also erkennen? 

Haring: Ja, und mit Ballett hat das herzlich wenig zu tun, es ist kein klassisches Sacre. Ich würde mich nicht in eine Reihe jener Choreografen stellen, die sich ernsthaft um eine Neuinterpretation des Stückes bemüht haben.

Thema sind also mehr die Tänzer, die ihre eigene Geschichte mit dem Sacre verbinden? 

Haring: Ich habe alles in einen Topf geschmissen: auch die persönliche Geschichte von Nijinsky, die ich spannender als das Stück finde. Das ist ja irgendwie absurd: Dauernd geht es um die brutale Opferung. Jeder möchte the chosen one tanzen, aber eigentlich stirbst du gleich zu Beginn und musst aber noch 100-mal hüpfen, bis du tot bist. Pina Bausch hat das Stück auf die deutsche Geschichte umgelegt, Maurice Béjart hat die sexuelle Komponente herausgestrichen und einen Mann und eine Frau sterben lassen. Zuletzt habe ich die Interpretation von Xavier Le Roy gesehen. Man merkt, jeder hat Platz. Ausgangsmaterial sind bei mir Bewegungen, die aus dem Stück gestohlen sind, und die Menschen, die das Stück getanzt haben. Dadurch steht dann auch wieder Originalmaterial auf der Bühne. Die Opferrolle wird nicht auf einen zugeschnitten, keiner muss für die anderen sterben. Gleichzeitig ist bei den Interviews herausgekommen, dass die Tänzer sehr wohl wissen, was sie jeden Abend riskieren, und trotzdem immer noch von ihrer Arbeit fasziniert sind. Letztlich sind zwei ganz unterschiedliche Welten aufeinandergeprallt. Man schaut sich gegenseitig an und staunt. Ich war sehr überrascht, wie sehr sich die Profis auf unsere Ideen eingelassen haben, und bin sehr stolz auf diese Zusammenarbeit.

tanz.at, 13.7.2010

ich habe das delirium gesucht | ditta rudle

„Liquid Loft“, der Name der erfolgreichen österreichischen Performancegruppe, ist Programm. Haring und Team geht es darum, „den zeitgenössischen Tanz in Bewegung zu halten, den Körper als Resonanzboden für das Leben einzusetzen.“

„Wir wollten den üblichen Stückecharakter aufbrechen. Wenn immer dasselbe wiederholt wird, kommt bald nur Scheiße heraus“, sagt Haring. In Zusammenarbeit mit den Ballets de Monte Carlo kommt jedoch eine Auseinandersetzung mit den Ballets Russes und Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ heraus.

Auch die Ensemblemitglieder fluktuieren: „Im Vorjahr war alles neu mit den Chinesen“, erklärt Cumming, die in der Lounge ihr erstes großes selbst choreografiertes Solo gezeigt hat. Ganz versöhnt war sie bei den Proben mit dem fließenden Setting noch nicht. Wenn Haring geschwärmt hat, wie bunt es zugehen darf in der Lounge – plaudern, trinken, herumgehen war erlaubt –, wurde ihr mulmig: „Für mich als Performerin ist das ein schwieriges Konzept, wenn das Publikum so zerstreut ist. Ich will es doch mitziehen.“ Loft-Leiter Haring tröstet: „Wenn du beginnst, sind aller Augen auf dich gerichtet“. Die in Kanada geborene Tänzerin wird von Haring nicht nur wegen ihrer exzeptionellen Ausdrucksfähigkeit geschätzt: „Ohne Stephanies schräge Ideen, so schräg kann ich gar nicht denken, wären wir niemals so weit gekommen.“ Weit, das heißt nicht nur bis Beijing und Seoul oder Monaco sondern auch auf das Podest im venezianischen Arsenale, wo Liquid Loft 2007 den Goldenen (Performance-)Löwen erhielt. Jin Xing („goldener Stern“) saß in der Jury. Eine wunderbare Freundschaft nahm ihren Anfang.

Liquid Loft wurde nach China eingeladen, um „The Art of Seduction“ (2. Teil der „Posing Project“-Trilogie, die, zwischen 2007 und 2008 auch bei ImPulsTanz  zu sehen war vorzuführen. Der orgiastische Höhepunkt der verführerischen Posen wird in einem Schattentheater dargestellt, dass sich auf amüsante Weise mit Schein und Sein auseinandersetzt. Aus der Antike bekannte erotische Posen auf der Leinwand, harmlos agierende Körper auf der Bühne. Gegen diese Delikatesse konnten selbst die beiden chinesischen Zensoren nichts einwenden. „Sie waren völlig perplex und auch verwirrt, die Abstraktion in unserer Arbeit, das ungewöhnliche Soundset. Doch sie konnten keine Obszönitäten ausmachen. Ihr Englisch war wohl zu schwach, um die eindeutigen Textpassagen wirklich zu verstehen“, erinnert sich Cumming.
Beschäftigten sich Haring und sein Team im Vorjahr mit fließenden Übergängen und Transformationen, so geht es heuer in „Sacre: The Rite Thing“ um die Entzauberung des Rituals. Das Verzaubernde (Basis der Performance ist Igor Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“) wird so lange mimetisch wiederholt, bis es entzaubert ist. Bei der Uraufführung 1913 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris (zuletzt geleitet von Dominique Mayer, dem neuen Staatsoperndirektor in Wien) durch „Les Ballets Russes“ (Choreografie Vaclav Nijinsky) kam es zu einem in der Ballettgeschichte beispiellosen Skandal. Schon beim ersten hohen Ton des Fagotts zu Beginn, erntete das Orchester hämisches Gelächter, das später in einen lautstarken Tumult überging. Doch Pierre Monteux, der Dirigent, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und sorgte dafür, dass die Aufführung zu Ende gespielt werden konnte. Weder dem Komponisten noch dem Ensemble unter der Führung von Impresario Sergej Diaghilew hat der Skandalgeschadet. Im Gegenteil, der „Sacre“ ist eines der meistgetanzten Ballette des vorigen Jahrhunderts und auch die Suite ist im Repertoire jedes renommierten Orchesters. Auch Walt Disney konnte an Strawinskys aufwühlender Musik nicht vorbei gehen. Im Musik-Zeichen-Film „Fantasia“ (Dirigent Leopold Stokowski) tanzen die Dinosaurier das „Frühlingsopfer“.

Nahezu hundert Jahre nach der eindrucksvollen Uraufführung arbeitet Liquid Loft mit Les Ballets de Monte Carlo (in Monte Carlo waren auch „Les Ballets Russes“ einige Zeit zuhause) zusammen, um mit dem ursprünglichen choreografischen Material zu arbeiten und auch des Choreografen, Nijinsky, Lebensgeschichte einfließen zu lassen. Was Haring besonders interessiert, ist die Affinität Diaghilews und seines Ensembles für neue Positionen in der Kunst, vor allem der bildenden Kunst. Für Haring hat diese Haltung „den Tanz zu einer zentralen Kraft für die Entwicklung der modernen Kunst erhoben, zu einem Motor der Moderne überhaupt.“

Gerne spielt Chris Haring mit Wörtern und Begriffen und ganz im Sinne seiner „Liquid Loft“ mag er besonders die Vorsilbe Trans – Transfer, Transfusion, Transformation, Transskription, Transsubstantion, Transfiguration, auf jeden Fall auch Transpiration. Und fröhlich assoziierend dahinschlitternd landet Haring ohne Anstrengung bei der Trance. Die war es, die den Burgenländer einst zum Tanzen brachte: „Genau wegen dieser Überschreitungen, wegen dieses Verlassens der Logik. Ich wählte den Tanz, weil ich in meinem Leben das Delirium gesucht habe. Wo sonst kann ich etwas erzählen oder erklären, ohne Wörter zu verwenden. Wir sprechen auch, aber bei uns sind die gesprochen Wörter ein Teil des Klanges, sie sind Musik.“

Längst bewegt Haring nicht den eigenen sondern lieber andere Körper auf der Bühne: „Selbstdarstellung ist mir eher peinlich. Ich bin von der Bühne weggegangen, als ich jemanden gefunden hatte, der das besser kann. Das war die Steph.“ Die muss lachen: „Ich zeige mich gern und genieße den Applaus. Früher hatte Tanzen für mich viel mit Schönheit zu tun. Jetzt hat es mehr mit Darstellung zu tun, ich bin keine Schauspielerin, aber ich liebe es, zu spielen.“ Für „The Rite Thing“ arbeitet Cumming, die auch bereits eigene Stücke choreografiert hat, als choreografische Assistentin, doch zur Choreografin will sie sich nicht ganz transformieren: „Ich bleibe Performerin. Doch es hat sich ein neues Fenster geöffnet, ich habe ganz neue Erfahrungen gemacht. Davon kann ich auch dem Publikum etwas weiter geben.“

Im jüngsten Stück von Liquid Loft spielen nicht nur PerformerInnen und BalletttänzerInnen ihre Rollen auf der Bühne, sondern auch Versatzstücke, Ready Mades, die als Träger vergangener choreographischer Absichten (wieder) entdeckt und im veränderten Kontext des Heute zu zeitgenössischen Strukturen verwoben werden. Der Tanz selbst ist für Chris Haring eine „Nachahmung des Wandels“, das Opfer (Höhepunkt in Nijinskis Choreografie ist der Tod der Auserwählten) gilt ihm als Instrument des Ausgleichs durch die Vergeltung am Unschuldigen. Heute wie damals braucht die Welt ihre Sündenböcke.

Haring will Ballett nicht als Gegner des zeitgenössischen Tanzes sehen, sich mit seinen Bewegungs- und Performance-Modellen nicht abgrenzen: „Als historisches Material gesehen, wird die Formensprache des Balletts überaus interessant. Liquid Loft versucht, das Vokabular neu zu lesen und zu analysieren. Wir wollen diese inzwischen fremde Sprache mit dem heutigen Wissen, unseren eigenen Bewegungserfahrungen und dem Repertoire an Formen des zeitgenössischen Tanzes neu betrachten.“

la strada, 12.7.2010

Chris Haring et son Liquid Loft sortira, à son habitude, des sentiers battus

el paìs, 16.7.2010

las dolorosas palabras del cuerpo | roger salas

El coreógrafo Alonzo King y el escritor Colum McCann se dan la mano en Montecarlo

Se dice pronto, pero se digiere con dificultad en estos tiempos: la edición 2010 del Monaco Dance Forum, que ahora culmina su tercera y última fase ha costado más de tres millones y medio de euros. La ocasión era excepcional: centenario de los Ballets Rusos de Diaghilev que tuvieron aquí su refugio y segunda casa (en cierto sentido y momento, España también lo fue), además de su continuidad natural a partir de la muerte en 1929 de su fundador. Y, hay que decirlo, esto puede ser posible por una mecenas entusiasta del ballet, hoy día una rara avis: la princesa Carolina, que así facilita que el pequeño principado de la Costa Azul mantenga el antiguo esplendor de los tiempos de su madre la princesa Grace, al menos a través de la danza.

Jean-Christophe Maillot, director artístico de los Ballets de Montecarlo y del Forum, ideó un largo festival en tres actos repletos de invitados célebres de todo el mundo, exposiciones, congresos y creaciones inspiradas en tan noble y decisivo pasado, además de un gran mercado de bailarines jóvenes que buscan su primer empleo y que atrajo a cientos de ellos para ser vistos por directores y coreógrafos de todo el orbe.

Los estrenos de cierre han sido impactantes. Anteanoche, en la Ópera del Casino, Chris Haring mostró Sacre / The rite thing, ejercicio intelectual y de índole posmoderna (no como pose, sino en fundamento estético), que se basa e inspira en las notaciones coreo-lógicas del propio Nijinski y en la reconstrucción, hoy tenida como canónica y asumida en todo el mundo del ballet menos en España, de los muy solventes Milliceng Hodson y Kenneth Archer. Su atinada selección de bailarines en la plantilla monegasca es clave en el éxito, con un Gaëtan Morlotti a la cabeza. Haring acude al término ready-made como un posdadaísta warholiano que, sin el menor pudor ni concesión a la escena burguesa que le hospeda, estructura la obra en una nueva ritualización coral y obsesiva. La interceptación entre citaciones de figuras coréuticas en un contexto de formato muy contemporáneo provoca el lazo sobre el espectador, que recibe sucesivos loops de los primeros compases de Stravinski.

Anoche, en el escenario al aire libre que hay tras la ópera y frente al mar, Alonzo King estrenó Writing ground, dentro del programa de colaboración entre escritores y coreógrafos, su trabajo junto a Colum McCann (Dublín, 1965), en el que a veces hay una divergencia notable entre lo que se escucha y lo que se ve. La enjundiosa y compleja suite musical basada en fragmentos antiguos, con fanfarrias y coros en que predomina el trabajo primoroso y detallista de Jordi Savall, da una impresión que deja paso a la esencialidad vital del estilo de King, su virtuosismo ligero y expuesto al lucimiento de acentos elevados, sentido de ascensión que puebla el dibujo y donde no faltan los referentes iconográficos del barroco. King quiere usar el cuerpo y sus mecanismos de expresión tal como McCann usa las palabras, búsqueda doliente y lírica del misterio armónico que debe impregnar y justificar todo arte, que busca evitar el dolor y encontrar la vía a una cierta felicidad ignota.

nice matin, 16.7.2010

NICE MATIN 16:07:10.pdf  (721.99 KB) / André Peyregne

kurier, 20.7.2010

ImPulsTanz: Ein neuer Blick auf das Ballett. Kritik: Chris Haring bringt eine ungewöhnliche Interpretation von „Le sacre du printemps“, befreit von jeglichem musealen Touch. Frühlingsopfer: Mit Les Ballets de Monte-Carlo erstellte der österreichische Choreograf Haring seine erste Arbeit für ein klassisches Ballett / Silvia Kargl 

Eine außergewöhnliche Zusammenarbeit zeigt das ImPulsTanz-Festival derzeit im Odeon. Das österreichische Performerkollektiv Liquid Loft um den Choreografen Chris Haring arbeitete zum ersten Mal für ein klassisch ausgerichtetes Ballettensemble. Die Einladung der renommierten Les Ballets de Monte-Carlo unter der Präsidentschaft von Prinzessin Caroline von Monaco beweist den hohen Stellenwert von Haring/Liquid Loft in der internationalen Tanzwelt.

In „Sacre: The Rite Thing“ bieten Haring und hervorragende Tänzerinnen und Tänzer aus Monte-Carlo eine ungewöhnliche Interpretation von Vaslav Nijinskys und Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“. Dessen Uraufführung geriet mit einer radikalen Revolutionierung des Balletts 1913 in Paris zum Skandal. Haring agiert nun auf mehreren Ebenen: Er setzt sich mit Nijinskys Choreografien auseinander, auch Elemente aus dessen „Petruschka“ und „Der Nachmittag eines Fauns“ fließen ein.

Dazu kommen ein schlichtes, farbenfroh beleuchtetes Set-Design von Thomas Jelinek und ein Strawinsky zitierendes Sound-Konzept von Andreas Berger. Das Original wird seziert, weitergesponnen, neu zusammengesetzt. Die verwendeten Bewegungsmodule basieren auf Stampfen und Erdverbundenheit, verkrampften Haltungen und eckigen Arm- und Handbewegungen, die durch die ursprüngliche Rolle des Frühlingsopfers vorgegeben sind.

Diskrepanz 

Die archaische Idylle, mit der das Ballett beginnt, wird mehrfach gebrochen. Zwischen der Darstellung der Opferrolle auf der Bühne und dem wirklichen Opfer entsteht eine schwer überbrückbare Diskrepanz. Haring sucht nicht nach Geschichten, sondern nach Haltungen und choreografischen Formen. „Sacre“ wird so vom musealen Touch der vielerorts getanzten Rekonstruktion von 1913 befreit.

Anders als Haring wählte Jean-Christophe Maillot eine neue Handlung für seine Version von „Daphnis und Chloé“ zu Teilen der Originalkomposition Maurice Ravels (1912). Maillot, seit 1993 als Ballettdirektor in Monte-Carlo erfolgreich, beschränkt das Ballett auf vier Rollen. Aus dem Hirtenpaar werden hier junge Liebende, die vorsichtig zueinander finden und verschiedene Stufen von Euphorie, Erotik bis zum Loslassen durchlaufen.

Auf neoklassischem Vokabular aufbauend, tanzen Anjara Ballesteros und Jeroen Verbruggen vor den sich ständig wandelnden Aktskizzen des Malers Ernest Pignon-Ernest. Dazu liefern Bernice Coppieters und Gaëtan Morlotti als erfahrene Nymphe und Pan einen herrlichen Gegenpart.

der standard, 20.7.2010

ZEITGENÖSSISCHER TANZ

schwitzende tänzer und bäume als protagonisten | helmut ploebst

Wien – Die Geschichte ist widerwärtig: Eine Frau wird zu Tode gehetzt, damit eine Männergesellschaft Erfolg bei Kampf oder Ernte haben soll. Trotzdem oder deswegen wurde mit Le sacre du printemps Musik- und Tanzgeschichte geschrieben.

Der österreichische Choreograf Chris Haring hat nun das während des gesamten 20. Jahrhunderts immer wieder strapazierte Thema ebenfalls aufgenommen. Unter dem Titel Sacre: The Rite Thing und mit Tänzerinnen und Tänzern des Balletts von Monte Carlo repräsentiert diese neue Arbeit, die nun bei Impulstanz im Wiener Odeon-Theater vorgestellt wurde, den Versuch, dem Kultstoff noch etwas abzugewinnen.

Keine leichte Aufgabe. Denn nach der legendären Aufführung CAKP. Einladung an Nijinsky von Lux Flux, Saira Blanche Theatre & Kv mit Markus Schinwald vor zehn Jahren bei tanz2000.at in Wien schien das Monster bereits besiegt. Die Wiederaufnahmen von Raimund Hoghe und Xavier Le Roy, die dem emotionalen Gehalt und dem Dirigat von Igor Strawinskys Sacre gewidmet waren, konnten dies unterstreichen.

Kein zeitgenössisches Denken 

Doch im Ballett existiert zeitgenössisches Denken nicht. Das Ballett befindet sich stets auf der Suche nach spektakulären, möglichst selbstreferenziellen Stoffen für seine sportlichen Laufsteg-körper. Wie die Oper für Regisseure eine Verführung darstellt, ist es mit dem Ballett für zeitgenössische Choreografen.

Chris Haring hat sich verführen lassen. In Sacre: The Rite Thing verzerrt er den Stoff, arbeitet seine Fallen und Faulstellen heraus, ironisiert seine Feierlichkeit. Andreas „Glim“ Berger dekonstruiert Strawinskys Musik. Die Balletttänzer werden ein wenig aus ihren Konventionen geschleudert. Und doch: Im Vergleich zu Harings früheren Arbeiten wirkt dieses Stück designhaft und glatt.

Beinahe radikal erscheint es allerdings dem Zuseher nach ei-nem Werk des Leiters der Monte-Carlo-Compagnie, Jean-Christophe Maillot, das an demselben Abend im Odeon zu sehen ist. In Daphnis et Chloé lässt Maillot keinen Zweifel darüber, dass das Ballett gerade dort, wo es „modern“ sein will, in der Gegenwart noch nicht eingetroffen ist.

Groß in den Hintergrund projizierte erotische Aktzeichnungen wirken wie Erzeugnisse aus einem Kurs für Hobbykünstler, und der Turteltanz zweier junger Leute könnte verschwitzter nicht inszeniert werden.

Interessant, dass sich Baletttänzer durch ihre schwere Ausbildung schwitzen, um schließlich in solchen Plattitüden über die Bühne zu turnen.

reviews

Das Opfer. Der Körper. Das Eindampfen. – Ein Delirium.

Fritz Ostermayer

Welches Opfer?

Opfer sind wir alle, mehr oder minder – konstatieren unisono Psychoanalyse, Soziologie und Religion. Auch als Täter sind wir Opfer, zumindest ehemalige – wobei diese Täter-Opfer-Dialektik vom zynischen Blick des Boulevards trotz Interesse an maximaler Opfer-Akkumulation als blinder Fleck nicht gesehen werden will. Mediale Opfercharts als Selbstversicherung der angstlüsternen Überlebenden, dass sie gerade noch einmal davon gekommen sind, verzeichnen nur das Ausmaß der ständig angerichteten Grausamkeit. Die Opfer sind gezeichnet, gekennzeichnet, manche im Tod sogar ausgezeichnet. Ausgeweidete und sinnentleerte Opferlämmer soweit das Auge reicht. Wer bräuchte da noch ein Jungfrauenopfer? Ausgerechnet für eine Naturgesetzlichkeit wie den Frühling? Zumal für ein heidnisches Fest. Wenn es doch nur etwas brächte, das Opfer! Etwas anderes als immer nur weitere Opfer. Doch die Rituale müssen ins Leere laufen in einem System, in dem jede Korrespondenz des Opfers zu dem, was durch seine Opferung gebannt werden soll, verloren gegangen ist. Denn das Opfer von heute bleibt sich selbst begrifflos. Und in diese tragische Leere schießt die Kalkulation der Macht. Ein Zurück zu den alten Ritualen aber gäbe es freilich nur über die Umwege Fundamentalismus und Totalitarismus. Was bleibt, ist ein Denken in Aufruhr. Und der Körper im Schmerz.

Welcher Körper?

Zur Zeit der historischen Avangarden von Kubsimus, Dada und Surrealismus, also im Umfeld von Le Sacre du Printemps, fanden zahlreiche Dekompositionen des Körpers statt – auffallend: fast immer nur des Frauenkörpers. Was bildende Künstler wie Picasso, Bellmer oder Giacometti sich als Traumata eines neumodern zu therapierenden Bewusstseins von der Seele malen und modellieren konnten, blieb den darstellenden Künsten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch verwehrt – es sei denn, sie bündelten ihre destruktiven Energien im damals in Paris florierenden Spektakel des Grand Guignol, jenes volkstümlichen Theaters der Grausamkeit, das wegen seiner so „echten“ Blut- und Innereien-Show als legitimer Vorläufer späterer Splattermovies gilt. Mit solch prä-cinematographisch vitalistischen Körper-Dekompositionen konnten selbst avantgardistische Choreographien nicht mithalten, da half – wie so oft, wenn eine Avantgarde ihre Wurzeln sucht –  nur die Neuinterpretation des ganz Alten, blieb nur der Regress auf griechische Vasen, den zweidimensionalen Körper und die „Primitivität“ archaischer Rituale.

Welcher Körper aber ist gemeint, wenn ein solcher sich 2010 in einem der größten Smash-Hits der Tanzgeschichte wiederfindet? In welchem begnadeten Tänzerkörper wären nicht alle Bewegungen aller bereits realisierten Choreographien eingeschrieben, gleichsam als ein fleischliches Palimpsest voller Ab-, Ein- und Ausdrücke der Historie? Der Tänzer, vor allem der Balletttänzer: ein Sampling-Sequenzer, der Tanz, vor allem das Ballett: Sequenzen unzähliger Samples, hochgeladen aus dem Archiv der Geschichte with a little help of the choreographer as a programming-engineer. Es sei denn der Choreograph konzentriert sich auf die kleinstmögliche Sequenz: auf den Körperteil als Sample ohne dessen von postmoderner Kritik eingeforderten Kontextualisierung mit der Wirkungsgeschichte des Werks, aber auch ohne Rücksicht auf alle klassischen oder auch avantgardistischen Traditionen des Balletts selbst – was freilich dem Paradoxon einer künstlichen Unschuld bedenklich nahekommt. Man könnte aber auch Eindampfen dazu sagen:

Welches Eindampfen?

How low can you go? Oder: Ab wann erkenne ich in der Reduktion den Archetypus? Die erhabendsten Momente im Pop sind oft jene, in denen nur noch das Gerippe eines Songs in der Gegend herumsteht: ein rudimentärer Beat und die nackte Stimme. Kein aufgeplustertes Arrangement verstellt die Sicht auf die Essenz, keine Effekte decken mögliche Defekte zu. Beim frühen Elvis zum Beispiel oder – noch karger und somit ersichtlicher – bei den New Yorker Minimal-Primitivisten von Suicide lässt sich die DNA-Sequenzierung von Rock’n’Roll extrahieren, ohne dass dabei „das Geheimnis“ dieser Musik preisgegeben würde – im Gegenteil: gerade weil sie sich – um es mit Duchamps „Großem Glas“ zu sagen –  „nackt vor uns entblößt, sogar“ zeigt, zieht sich die Analyse ihrer Wirkungsmächtigkeit ins Reich der Affekte und Emotionen zurück. Der Grund, warum etwas mich berührt, gehört immer noch mir, denn es sind meine Sinnesorgane, die mein Herz und Hirn befeuern. Überwältigung durch Zurücknahme also. Im Ballett hieße das: die gefrorene Pose, das Standbild der Choreographie, der Körper in Erstarrung, die Muskeln in Ruhe beziehungsweise doch auch als psychomotorisches Syndrom der Katatonie: in Lauerstellung, angespannt und sprungbereit. Die Ruhe vor dem Sturm. Eine Geschichte eindampfen: von der großen Erzählung zum Haiku. Die Kunst des Weglassens zum Zweck der Kenntlichmachung erfordert höchste Genauigkeit und Schärfung der Mittel. Eine hervortretende Ader am Unterarm des regungslosen Tänzers weiß vielleicht mehr von „man in e/motion“ zu erzählen als das perfekteste grand Allegro. So wie uns ja auch John  Cages „4.33“ – jene berühmte Komposition der „Nicht/Stille“ – mehr über das Wesen von Musik und Klang verraten kann als so manche prächtige Sinfonie der Romantik. Doch wer da wie das Kind in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ riefe: „Aber er (der Kaiser) hat ja gar nichts an!“, dem entginge das Mysterium des Nacktseins, das sich eben nicht in obszöner Entblößung, sondern in der Ungeschütztheit und Verletzlichkeit des Körpers offenbart: auch das Opfer besitzt am Ende nur noch seine Nacktheit.

texte