staatstheater kassel
lego love
Das Bacchanal ist dem Dionysischen genauso verbunden wie dem Mythischen. Mythisch ist sein Versprechen, mehr zu sein als die bloße Orgie: das Gelage weist über das orgiastische Erlebnis hinaus, verwandelt die Teilnahme zur Teilhabe am mythischen Ritual. Aus profaner Perspektive ermöglicht das Bacchanal, sich nicht nur selbst hinzugeben, sondern sich aufzugeben, sich selbst zu opfern, zu vergehen – mit Haut und Haar, sich in die Ohnmacht fallen zu lassen, lebendig sterben, ohne tot zu sein. Was dann noch am Leben hält, ist das Wissen ums Ritual, das Wissen um die Wiederkehr, schon bald wieder zu sterben, um für die nächste Ohnmacht bereit zu sein.
photos: n.klinger, c. haring
Als könnte man sich ans Sterben gewöhnen, um dem Tod, den man in sich trägt, schon zu Lebzeiten eine Stimme zu verleihen, damit er eher stottert, dosiert erzählt und nicht ein letztes Mal das Wort erhebt. Das ist der Gesang des Bacchanals, sein Chor der stotternde Tod. Wenn der Begriff der Readymades ins Spiel gebracht wird, dann nur als Übersetzung fürs Ritual, das schon zur Verfügung steht, nicht erfunden werden sondern nur in die Hand genommen werden muss, um sich die Löcher zu stopfen, den Arsch, den Mund, die Möse. Dort flößt man das Leben ein, den Wein, die Zunge, das Essen, den Samen, damit das Lebendige im Bild des Vergehens ausrinnen kann. Was dann vom Nackten überbleibt, ist nicht der entblößte Körper sondern bloß der Körper.
text: andreas spiegl
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
Staatstheater Kassel, Germany
Staatstheater Kassel, Germany
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Staatstheater Kassel, Germany
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dates
mit: Laja Field | Annamari Keskinen | Wencke Kriemer de Matos I Lauren Rae Mace I Breanna O´Mara I Laura Ramos Santana I Maasa Sakano I Léa Tirabasso II Rémi Benard I Michał Czyż I Simone Deriu I Martin Dvořák I René Alejandro Huari Mateus I Alexander Szivkov I Victor Usov
Choreografie: Chris Haring
Bühne: Steph Burger
Kostüme: Stefanie Krimmel
Sounddesign: Andreas Berger
Licht: Oskar Bosman
Dramaturgie: Thorsten Teubl
mit dem Ensemble des Staatstheater Kasselunter der Leitung von Johannes Wieland.
Première am 12. April 2013 am Staatstheater Kassel
Doppelabend mit Johannes Wieland’s White Noise Tragedy
credits
der standard, 08.08.2013
/ Helmut Ploebst (Auszug)
In seinem Stück Lego Love übt auch Chris Haring Kritik an der Kommerzialisierung des spekulativ sexuell aufgeladenen Körpers. Seine Tänzerinnen und Tänzer formen eine posthumane Orgienmaschine, in der die künstliche Steigerung von Lust so lange funktioniert, bis sie in Gleichgültigkeit erstarrt. Und die Sehnsucht in eine Gier umschlägt, die nur sich selbst kennt und den Körper gnadenlos zum Zweck ihrer Befriedigung missbraucht.
wiener zeitung, 22.07.2013
Impulstanz: Chris Harings „Lego Love“ als Spektakel der Sinne / Verena Franke
Käsekrainer in Love
Eine Orgie? Ja. Deshalb obszön? Nein. Aber dennoch ein performatives Bacchanal. Und zu diesem lädt der heimische Tanzschaffende Chris Haring in seiner jüngsten Arbeit „Lego Love“, die am Wochenende im Rahmen von Impulstanz seine österreichische Erstaufführung feierte.
Am Anfang steht die Käsekrainer. Um in Ekstase zu geraten, ist nämlich heute der Wein der alten Griechen passé. Stephanie Cumming von Harings Ensemble Liquid Loft betritt in einem Outfit à la Business-Woman – schwarze Brille, Etui-Kleid und bürotaugliche Stöckelschuhe – die Rampe, um den unendlichen Genuss des Schlemmens einer Käsekrainer zu beschreiben. Und somit führt sie in die Thematik ein: die fast kathartische Wirkung einer – hier – Geschmacks-Orgie, um aus dem grauen Alltag auszubrechen, dem „lebendig sterben, ohne tot zu sein“ zu entkommen. Humorig natürlich, wie bei Cumming und Haring nicht anders zu erwarten.
Es geht lustvoll zur Sache: Lego-Liebe zum Fressen
Und dann geht es zur Sache: Der reinen Lust wird hier gefrönt, wenn die scheinbar seelenlosen Performer wie Lego-Bausteine von Haring ineinander gesteckt werden. Die Tänzer des Staatstheaters Kassel spielen mit der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen, von Zeitlupe bis Turbo ist die ganze Palette präsent. Tableaux vivants, die an große Kunstwerke der Malerei erinnern, repetieren ihre Posen in Endlosschlaufen. Eine rothaarige junge Schönheit spricht mit Marlene Dietrichs alter Stimme, das Dubben ist Teil von Harings stilistischer Handschrift geworden, als Verfremdung des Offensichtlichen. Skurriler Humor ist hier gefragt. Seine Menschenknäuel sind eine reine Ansammlung von Fleisch, die einander zum Fressen gern haben. Die Soundcollage von Andreas Berger lässt in der Interpretation dann keine Unsicherheiten mehr zu: Die Darsteller atmen laut, stöhnen, winseln und plappern inhaltslos vor sich hin, um sich nach eisblauen bis glühendroten Farborgien schmatzend zu lieben, oder vielleicht doch zu fressen.
Was schlüpfrig und gewagt klingen mag, ist letztlich ein raffiniertes Spiel für alle Sinne, das keinerlei Erklärung im Programmheft benötigt – eine Seltenheit im zeitgenössischen Tanz. Chris Harings Skurrilität und Ironie mag man, oder mag man gar nicht – eine Grauzone lässt er nicht zu. Und aufgrund dieses stilistischen Selbstbewusstseins zählt er heute zu den international erfolgreichsten österreichischen Choreografen.
kronen zeitung, vom 22.07.2013
Orgie & Mysterium / Karlheinz Roschitz
Hermann Nitsch hat zwar den Begriff des Orgien-Mysterien-Theaters für sein Schaffen gepachtet. Der österreichische Choreograf Chris Haring zeigte aber nun bei ImPuls Tanz im Volkstheater seine Sicht auf die moderne Gesellschaft – ohne Sitten, ohne Moral -, in der Bacchanal und Orgie, der Erstarrung und Auflösung.
Stadien der Zerstörung und Erstarrung der verlogenen Model- und Design-Gesellschaft: Chris Haring zeigte mit seiner Compagnie Liquid Loft und dem Tanzensemble des Staatstheaters Kassel seine brillante Choreografie „Lego Love“
Auch bei diesem ebenso kritisch-analytischen wie rituell-poetischen Stück „Lego Love“ bedient Haring sich vieler Facetten des Mythischen und Mystischen, aber auch des dionysischen Bacchanals und der Orgie, in der alle Tabus fallen: Er zeigt die Parade einer Gesellschaft, die sich in der überzogen outrierten Gestik der Models und des „designten“ Menschen in einer synthetischen Glamour- und Glitterwelt verständigt.
In bald entschleunigten, zerfallenden, bald sich ballenden Figurengruppen schwelgen die zwöf TänzerInnen in Bildern der Ekstase, des Vergehens in Lust und Hedonismus, eines nicht Sterbenkönnens, der Auflösung, des sich Fallenlassens bis zur Erschöpfung. Sie werden alle Opfer, die in Posen erstarren. „Im Bauch des Bacchanals werden die Körper verdaut.“
Haring lässt auch verfremdete, ironische bis selbstzerstörerische Pointen aufblitzen, wenn er die Gesellschaft in Schüben entblößt. Besonders eindrucksvolle Bilder entstehen, wenn seine TänzerInnen in Verschlingungen zu atmenden, vibrierenden Skulpturen werden, die zuletzt in einer Explosion zerfallen.
Stephanie Cumming kreierte fürs Wiener Publikum einen einbegleitenden Text: Philosophisches über prall gefüllte Käsekrainer, die wohl als Sinnbild für die Tanzfiguren stehen: Ein bizarr-phantastischer Text zwischen schlimmster Banalität und skurriler Poesie, zwischen Surrealität und Nonsens-Bildern, die Kurt Schwitters legendärer „Merz“-Poesie oder Louis Aragons Litaneien alle Ehren machten.Das Publikum jubelte über die hervorragend getanzte „Lego Love“ lange begeistert.
european cultural news, 21.07.2013
Auf ins Theater – Zum Orgien-schauen! / Michaela Preiner
„Lego Love“ – hinter diesem mehr kryptischen als erhellenden Titel verbirgt sich die neue Arbeit von Liquid Loft unter der Leitung von Chris Haring. Am 19. Juli hatte sie anlässlich von ImPulsTanz 2013 in Wien Premiere und bot dabei dem Publikum nicht nur einen Abend voll von zeitgenössischem Tanz. Vielmehr durfte es sich sattsehen an orgiastischem Geschehen, durfte lachen bei Kabarett-reifen Soloperformances und eintauchen in eine Bildwelt, aufgestiegen wie aus dem griechischen Götterfundus, den die Menschen in Marmor vor Tausenden von Jahren skulptural verewigten.
Ganz zu Beginn jedoch führte Stephanie Cumming mit einer Performance nach einem Text von Andreas Spiegel das Publikum in die Materie ein. Als exaltierte junge Frau im schicken, grauen Bürokleidchen, ganz auf Figur geschnitten und mit High-heels dem gängigen Bürodresscode verpflichtet, schwelgt sie in der Beschreibung des Genusses einer Käsekrainer. Einem auf der Hand bzw. im Mund liegenden Vergleich mit einem Bacchanal, der es dem Wiener Publikum ermöglichen soll, die anschließende Orgien-Präsentation sinnlich nachzuvollziehen. Und ganz so unrecht dürften Cumming und Haring mit diesem Prolog nicht haben, denn der Großteil der ZuseherInnen wird zeitlebens nicht in die Situation einer Orgien-Teilnahme kommen, den Lockungen einer Käsekrainer hingegen öfter erliegen.
Doch was in Cummings Auftritt noch als artifiziell-unterhaltsame-flapsige Beschreibung eines höchst sinnlichen Geschehens daherkommt, entwickelt sich kurz darauf zu einem Bilderrausch, dem man sich gerne ausliefert. Erst nach und nach bevölkert sich die Bühne mit insgesamt 13 Tänzerinnen und Tänzern. Die mausgrauen Kostüme (Stefanie Krimmel) – Hinweis auf einen eintönigen Alltag, der gesellschaftlichen Konventionen verpflichtet ist – kontrastieren höchst ästhetisch mit der sich ständig verändernden Lichtführung. Wo Distanz angesagt ist, bleibt sie im Blaubereich verankert und changiert zum tiefsten Rot in jenen Passagen, die orgiastische Zustände beschreiben. Bis es soweit ist, die Hüllen zumindest teilweise fallen und die einzelnen Körper zu einem großen Organismus verschmelzen, in dem sich die einzelnen Subjekte in einem einem Über-Körper auflösen, dürfen kleinere Gruppierungen Zärtlichkeiten austauschen oder auch nur kameratauglich posieren. Der Körper wird bei Haring dabei nicht nur als Austragungsort intimer Gesten präsentiert, sondern zeigt sich auch als Projektionsfläche unserer medial bestimmten Zeit. Längst ist dabei die Intimität aus dem Schlafzimmer getreten und hat die verschiedenen Bühnen der Werbung erobert. Der Körper als Lockruf und als ewige Lustquelle begreift sich in „Lego Love“ nur in der Interaktion als sinnlich erfahrbar. Breanna O´Mara als rothaariger Vamp darf in ihrem Solo aber auch darauf hinweisen, dass Einsamkeit und der bewusste Abstand von Beziehungen in krassem Gegensatz zu jenen Gefühlen stehen, die in bacchanalen Festen kurzfristig von den Menschen Besitz ergreifen. Erst wenn alle Schönheitsposen eingenommen, alle Zärtlichkeitsbekundungen ausgetauscht und alle Selbstdarstellungen exerziert wurden (Viktor I. Usov erweist sich darin als wahrer Meister, dessen Körper eine besonders ausdrucksvolle Sprache zu sprechen imstande ist) werden alle gesellschaftlichen Schranken überwunden. Die körperliche Vereinigung der TänzerInnen gerät zu einem Schauspiel, das vom Publikum voyeuristisch mitverfolgt wird. Das Sounddesign von Andreas Berger und die artifizielle Choreografie, die die Menschen mehr nach dem Goldenen Schnitt, als nach ihrem Verlangen zueinander in Beziehung setzt, machen klar, dass es sich um eine Bühnenshow und nicht um ein reales Gelage handelt.
Nach dem Höhepunkt bleibt nur eine junge Frau ermattet auf der Bühne zurück. Mit einem kleinen Lied (Last Song for Sunny aus Songs of Suspects mit einem Text von Eva Jantschitsch) hüllt sie sich in eine scheinbare Geborgenheit, die sie aber wahrscheinlich jederzeit wieder bereit sein wird aufzugeben. Dann nämlich, wenn die nächste Orgie angesagt sein wird.
Ein Kunst-voller Abend, abseits von zivilisationskritisch geschwängerter Athmosphäre, ganz den Triebkräften des menschlichen Seins verpflichtet.
der standard, 22.07.2013
Höllisch tanzen Frühlingsopfer nebst Liebestötern / Helmut Ploebst
Wie der britische Star Akram Khan bei Impulstanz sein Leben vorstellt und „Le sacre du printemps “ seziert. Und der Österreicher Chris Haring eine grelle Lustkörper-Maschine gestartet hat.
Wien – Leichte Kost sind die Stücke des britischen Choreografen Akram Khan nicht. Aber doch stets von einer bestechenden und unheimlichen Schönheit. Bei Impulstanz hat Khan kürzlich mit seinem Solo Desh das Burgtheater und seinem Gruppenstück iTMOi die Halle E des Museumsquartiers gut gefüllt. Ganz schön abseitig ist auch Lego Love des Österreichers Chris Haring geraten, das gerade im brechend vollen Volkstheater zu sehen war. (…)
Wesentlich ironischer, aber zumindest ebenso unheimlich ist die vergleichbar klangintensive (Andreas Berger) Arbeit Lego Love von Chris Haring mit dem Ballettensemble des Staatstheaters Kassel geraten.
Am Anfang steht die Metapher einer durch den Biss in eine Käsekrainer ausgelösten Ekstasis. Daraus quillt ein geiles, posthumanes Sodom und Gomorrha, bei dem eine Androiden-Gruppe in glühenden bis eisigen Farborgien badet und sich auf ein Bacchanal einlässt, das in kannibalistischen Fantasien kulminiert.
Lego Love wischt die unterhaltungsindustriell profitablen Illusionen von der romantischen Liebe beiseite. Es obsiegt das Bekenntnis zur nackten Lust – in einer Maschine aus Körpern, die manche wilden Vorstellungen von der Vereinigung alles Fleischlichen imitiert und überhöht.
Dieses Bekenntnis wird aber subvertiert: Die elf automatischen Lusttänzer auf der Bühne behalten bis zum Schluss ihre Liebestöter an. Abgründig war Harings Humor schon immer. Hier aber übertrifft sich der Choreograf selbst.
kurier, 20.07.2013
Elastische, knackige Wesen Chris Haring und Philipp Gehmacher: Tanzende Worte und biegsame Käsekrainer beim ImPulsTanz-Festival.
Zwei österreichische Choreografen bei ImPulsTanz: Zwei Stücke von Chris Haring und Philipp Gehmacher, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Haring/Liquid Loft präsentierten am Freitag im Volkstheater „Lego Love“ mit dem zeitgenössischen Tanzensemble des Staatstheaters Kassel.
Bilder aus der örtlichen Gemäldegalerie dienten als Vorbilder für ein infernalisches Bacchanal.
Haring transferiert sie als Bausteine mit Vergangenheit meisterhaft in die Gegenwart. Entseelt bedienen sich die Akteure einer Tanzsprache aus der Scheinwelt der Models mit surrealer Betonung einzelner Körperteile samt übertriebener Posen und Dauerlächeln, wie sie in der Werbung idealisiert werden. Haring stellt diese verlogene Scheinwelt durch komische Verfremdungen bloß.
Für ImPulsTanz kreierte die Tänzerin Stephanie Cumming einen Prolog, in dem sie ihre ambivalenten Erfahrungen mit Käsekrainern schildert. Symbolisch stehen sie für die elastischen und knackigen Wesen auf der Bühne, die gleichzeitig verführen und zerstören. (…)
hessische / niedersächsische allgemeine, 14.04.2013
/ Juliane Sattler
Johannes Wieland und Chris Haring mit „Readymades“ in Kassel
Kassel. Das Mädchen hockt im Bühnenhintergrund, halbnackt, mit einem kleinen Lied auf den Lippen. Sehnsuchtsklänge. Die Reise in das Bacchanal ist beendet, überall erinnern weggeworfene Kleidungsstücke daran. Wie keiner anderen Kunstform gelingt es dem zeitgenössischen Tanztheater immer wieder, die Aggregatzustände des modernen Menschen auszuloten, seine Seelenzustände in Bildern auszustellen: Körper erzählen vom ewigen Widerstreit zwischen Ordnung und Chaos, Rausch und Normalität, Individuum und Gruppe. So viele Träume sind darin verborgen. Im Kasseler Schauspielhaus widmen sich in der neuen Tanztheaterpremiere „Readymades“ zwei Stücke diesem Thema. Tanzdirektor Johannes Wieland hat dazu den angesehenen Wiener Choreografen Chris Haring eingeladen: Zwei Choreografien an einem Abend legen dann auch Schnittstellen bloß, vor allem aber eine eigene Handschrift.
Auf der weißen Bühne treiben in Harings „Lego Love“ die Tänzer in den grauen Kleidern (Kostüme: Stefanie Krimmel) zu einem Knäuel aus Körpern zusammen. Wie ein großes Monstrum atmet dieser Corpus, fließt, schmatzt, Münder saugen sich fest. Nähe als Droge. Im Rauschzustand rücken Tod und Leben eng zusammen. Harings Arbeit ist stark performativ, da entstehen bewegte Bilder und festgefrorene Figurengruppen, die auch an römische Plastiken und Grisaille-Reliefs erinnern.
Mit der Sound-Collage des Wiener Elektronikers Andreas Berger, der klassische Sequenzen verfremdet und zerstückelt, unterfüttert der Wiener Choreograf seine verblüffenden Brüche: Viktor I. Usovs Tanz mit sich selbst ist eine Selbstvergewisserung des Köpers zum knarzenden Geräusch des Soundbastlers. Und wenn Breanna O‘Mara sich am roten Haarschopf zieht und ein verfremdetes Marlene-Dietrich-Lied über vergangene Lieben erklingt, kann „Lego Love“ auch irrsinnig komisch sein. Eine Tanzperformace als sinnliches Theatererlebnis.
So viel Tanz war nie: Mit einer brillanten Leistung des hier durch Gastverträge aufgestockten 15-köpfigen Ensembles besticht das Eingangsstück „white noise tragedy“ von Johannes Wieland. Der in New York und Kassel arbeitende Choreograf umkreist in seinem 60-minütigen Stück das Gezähmte und Gefährliche im Menschen. Die Tänzer auf dem weißen, zuweilen in lila Licht getauchten Bühnenplateau agieren wie geklonte, vervielfältigte, fremdbestimmte Menschen. Roboterbewegungen von Lauren Rae Mace oder das Eingangssolo von Simone Deriu im Stil eines Kunstturners beherrschen das Bild, bevor zu den Heavy-Metal-Klängen von Donato Deliano das Kontrollierte einem wilden Naturzustand weicht.
Die Company mutiert zu einer Horde wilder Tiere, fauchend, mit aufgerissenen Mündern. Kaskaden von aggressiven Bewegungslinien ergießen sich über die Bühne, der ewige Kampf des Menschen gegen das Chaos in sich selbst. Maasa Sakano im fast waagerechten Bewegungsflug über dem Boden, gedrehte, gedrechselte Sprünge im Fallen, wunderbar, eine Parforce-Leistung des Ensembles. Im Ermatten dreht Annamari Keskinen einen Spiegel ins Publikum, Stroboskoplicht blendet. Wo finden wir uns selbst? Zum Schluss werden die weißen Kleider der Tänzer an herabgelassenen Haken in den Bühnenhimmel gezogen. Für beide Stücke stürmischer Applaus zum Premierenabend.
tanz, 04.06.2013
/ Syliva Staude
Diesmal hat Kassels Tanzchef Johannes Wieland den Wiener Choreografen Chris Haring eingeladen, der mit Künstlerkollegen als Liquid Loft seit 2005 absolutes Formbewusstsein beweist.
Mit zwei Stücken von jeweils knapp einer Stunde Dauer ist der Abend nicht eben klein geraten. Zudem sind «White Noise Tragedy» von Wieland und «Lego Love» von Haring unter dem Übertitel «Readymades» ungewöhnlich gut aufeinander abgestimmt, haben doch beide nicht wenige – aber auch nicht zu viele – Ähnlichkeiten und Bezüge. Es sind eher zwei Kommentare zu einem Thema. In der bildenden Kunst ist ein Readymade ein Alltagsobjekt, das in einem bewusst neu erstellten Kontext zum Kunstwerk wird. Hier spielen zwei Choreografen mit den banalen Readymades des Lebens, mit Posen und Grimassen, mit schematisierten Gesten und Bewegungsfolgen. Das aufreizend übergeschlagene Bein, das starre, zähnefletschende Plastiklächeln, sie können auch im Alltag in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden – und vielleicht werden sie darum auch manchmal zur Kunst. Meist aber entlarven sie die Poseure selbst. […]
«White Noise Tragedy» handelt von Künstlichkeit und zeigt Menschen von der Stange. Haring führt danach das Thema nahtlos, nur mit etwas strengeren, konziseren Mitteln fort. Der Wiener ist in seinem eigenwilligen Werk spezialisiert auf Mensch-Maschinen, Mutanten mit Roboterbewegungen, auf Stummfilm- und Cartoon-Anmutungen. Nicht selten streben diese Plastik-Humanoiden nach sexueller Vereinigung, arbeiten sich auch geduldig aneinander ab; aber es sind stets kühle Orgien ohne Erotik, eher blutleere Reibungen.
«Lego Love» erreicht mit neon-farbener Beleuchtung, repetitiven Mini-Bewegungen und der stimmverzerrenden Geräuschunterlage von Andreas Berger – Mitbegründer von Liquid Loft -, dass der Mensch als standardisiertes, auch fehleranfälliges System erscheint. Wie die Nadel auf einer kaputten Schallplatte springen die Tänzer immer wieder zurück in ihren Bewegungen, ihre Körper knirschen dabei wie steifes Leder. Einmal lässt Haring sie wie Raubtiere aufeinander losgehen, furios im Fauchen. Sie mögen vielleicht davon träumen, dass sie gefährlich sind. In Harings dunkel-lustiger Welt sind sie allemal nur arme Würstchen in Plastikpelle.
kulturmagazin, 27.05.2013
Wie im Film … / Bettina Damaris Lange
[…] Nicht weniger atemberaubend als das erste Stück an diesem Tanztheaterabend ist die Inszenierung von Chris Haring. Bei Lego Love ist das Thema eindeutiger, es geht um ein dionysisches Orgiengeschehen. Der Blick darauf ist jedoch originell und innovativ. Abgedroschene Klischees über die erotische Vereinigung der Geschlechter bekommt man hier nicht zu sehen. Vielmehr setzen sich sehr fürsorglich und langsam bewegte Bilder zusammen. Einzelne Bewegungen finden zueinander und bilden ein großes Ganzes. Paare und Gruppen begegnen sich, erforschen einander, es kommt zu Berührungen bis schließlich alle irgendwie miteinander vereint und verbunden sind. Individuen gibt es nicht mehr, hier steht jetzt eine Masse, ineinander verwebt, miteinander im gleichen Takt pulsierend. Das Gesamtbild könnte auch ein Herz sein, sich mal zusammenziehend und mal ausdehnend, Leben aufnehmend und Leben abgebend. Auch hier wird die Bühne immer wieder in grelle Farben getaucht, mal pink, mal grün, auch hier sind die Klänge verzerrt, Worte werden gelallt und bekommen dadurch Intensität und Komik zugleich. (Sound: Andreas Berger). Teilweise verdichten sich Farben und Bewegungen der Tänzer so einzigartig, dass man als Zuschauer meint, einen Film auf einer Leinwand anzuschauen oder ein Ölgemälde zu betrachten. Johannes Wieland und Chris Haring mitsamt den grandiosen Leistungen ihrer Tänzerinnen und Tänzer ist ein einzigartiger und großartiger Theaterabend reich an Bewegungsvielfalt gelungen, den man sich unbedingt anschauen sollte.
waldeckische landeszeitung, 07.05.2012
Grenzenlose Saltoseligkeit und anschauliche Ekstase / Armin Hennig
Tanztheater „readymades“ im Schauspielhaus – Choreografien verlangen Tänzern wie Zuschauern alles ab
Mit der Tanztheaterproduktion „readymades“ erforschen Chris Haring und Tanzdirektor Johannes Wieland im Schauspielhaus den Alltag in seiner Beziehung zur Kunst.
Mit dem unter dem Obertitel „Readymades“ präsentierten Doppelprogramm vermitteln Tanztheaterdirektor Johannes Wieland und der Wiener Choreograph Chris Haring den Zuschauern den einen oder anderen nachhaltigen Eindruck und geben den Besuchern zudem noch viel Stoff zum Nachgrübeln oder auseinanderdröseln der durch neue Kontexte entstandenen oder evozierten Sinnzusammenhänge mit auf den Heimweg.
Die passenden Antworten soll ohnehin jeder Zuschauer selbst finden. […]
Mit dem Auftakt zum Scherzo von Gustav Mahlers fünfter Sinfonie, dem Stabat mater von Pergolesi , sowie dem Marlene Dietrich-Couplet „Wer wird denn schon aus Liebe weinen“ greift Soundgestalter Andreas Berger für „Lego Love“ programmatisch auf allgemein vertraute musikalische Ready Mades zurück, obwohl nur der Song über die Austauschbarkeit menschlicher Existenzen im Originalsound erklingt, dafür optisch verfremdet wird. Denn die rothaarige Breanna O‘ Mara leiht als frisches Gesicht der Stimme der Dietrich in der Eröffnungssequenz ihren Mund und ihren Körper.
Mit Lego und Love verbindet Haring zwei vielseitig verwendbare Komponenten, die sich rasch zu immer neuen Kombinationen zusammenfügen lassen. Bei der Auswahl seiner „objets trouvées“ geht er gewissermaßen den umgekehrten Weg wie der Erfinder dieser Kunstform, die Alltagsobjekte (wie das legendäre Urinal) im veränderten Kontext zur Kunst erhoben. Denn mit der Laokoon-Gruppe und Motiven, die auf Gemälden in der Wilhelmshöhe gesehen hatte, greift der Wiener Choreograph beim Gestalten seines Bacchanals auf „Ready Mades“ aus der Hochkultur zurück, die mit dem Orgiengehalt neu aufgeladen werden. […]
FRANKFURTER RUNDSCHAU, 19.04.2013
Wenn Maschinen eine Orgie feiern / Sylvia Staude
Der Mensch, ein Readymade: Choreografien von Johannes Wieland und Chris Haring am Kasseler Staatstheater
Einen Doppelabend aus zwei je knapp einstündigen Werken hat das Kasseler Tanztheater jetzt im Schauspielhaus zur Uraufführung gebracht: „Readymades“ ist der wohlbedachte Übertitel der Stücke „White Noise Tragedy“ von Johannes Wieland, Tanzchef in Kassel, und „Lego Love“ von seinem österreichischen Gast Chris Haring. Die beiden Choreografien haben nicht wenige Ähnlichkeiten und Bezüge – aber nicht zu viele. Und Wieland hat Haring das letzte Wort überlassen, was schon deswegen sinnvoll ist, weil „Lego Love“ konziser ist, geballter in Form und Wirkung.
In der bildenden Kunst ist ein Readymade ein Alltagsobjekt, das durch einen neuen, bewusst erstellten Kontext zum Kunstwerk wird. Hier haben die zwei Choreografen mit den Readymades unseres Lebens gespielt, mit Posen und Grimassen vor allem, mit schematisierten kleinen Bewegungsfolgen und Haltungen, dem aufreizend übergeschlagenen Bein, dem starren, zähnefletschenden Plastiklächeln. Außerdem sind in die gemischten Klanglandschaften beider Stücke – Haring arbeitete erneut mit seinem langjährigen Komponisten Andreas Berger zusammen, Donato Deliano machte für Wieland das Soundediting – verzerrte Satz- und Wortfetzen, manchmal nur Buchstaben im Stil von Micky-Maus-Filmen eingebaut. Scheinbar aus den Mündern der Tänzerinnen und Tänzer kommt immer wieder Quieken, Brummeln, das sich steigern kann zum Raubtierfauchen, kommen Roboterstimmchen. […]
Das Thema wird nach der Pause von Chris Haring nahtlos, aber mit etwas anderen, strengeren Mitteln fortgeführt. Haring ist in seinem eigenwilligen Werk spezialisiert auf Mensch-Maschinen, Mutanten mit Roboterbewegungen, auf Stummfilm- und Cartoon-Anmutungen. Nicht selten streben seine Figürchen nach sexueller Vereinigung, arbeiten sich auch geduldig aneinander ab, aber es sind kühle Orgien ohne jede Erotik, mechanische, blutleere Reibungen.
Auch „Lego Love“ erreicht mit neonfarbener Beleuchtung, repetitiven Mini-Bewegungen und knirschender Geräuschunterlage, dass der Mensch als so standardisiertes wie fehleranfälliges System erscheint. Er mag davon träumen, ein gefährliches Raubtier zu sein, aber in Harings dunkel-lustiger Welt ist er allemal ein Würstchen. In einer Plastikpelle.