models of reality

In ihrer klangförmigen Manifestation können Materialien unerwartete imaginäre Räume auf der Bühne erzeugen: Das Knirschen von Kies, die Reibung von Oberflächen wie Beton, Glas, das Rauschen der Blätter, etc. provozieren Umformungen und Metamorphosen des Körpers zu utopischen „Raumskulpturen“. Inspiriert von Designideen und Architekturkonzepten der vor 100 Jahren gegründeten Weimarer Bauhaus-Schule, folgen die Performer dem Prinzip „Form Follows Function“, um es dann wiederum zu durchbrechen.

In Models of Reality ist die Mutation der Geräusche, ihre Verfestigung zu räumlichen Zusammenhängen, das akustische Pendant zu den Körper- und Gedankensprüngen. Unterschiedliche emotionale Assoziationen kommen hier zum Vorschein: Wie wird eine Umarmung erfahren, wenn sie mit einem lauten Knarren unterlegt ist? Die collagierten Geräusch- und Klangatmosphären gerinnen zur Grundlage imaginärer Räume, in deren Zentrum wiederum der menschliche Körper  – laut Foucault der “Hauptakteur aller Utopien“ – steht.

photos: m. loizenbauer

Das Prinzip der Form, die der Funktion zu folgen habe, avancierte in den Design-Utopien der vor 100 Jahren gegründeten Bauhaus-Schule zu den entscheidenden Leitsätzen. In Models of Reality wird, auch auf Basis dieser Idee, den „Funktionen“ einer Komposition für Raum, Bewegung und Klang eine choreografische Form gegeben. Durch zugespielte Materialgeräusche – den Sound von Glas, Holz oder Kunststoff – entstehen abstrakte Orte. Wie entspricht man akustischen Architekturen? Und was tun sie den Körpern an, die in ihnen existieren? Man spielt Anziehung und Abstoßung, Ab- und Zuwendung durch, man ringt miteinander (oder um etwas), während es aus den mobilen Lautsprechern kracht, knirscht, ächzt und schleift: Zeremonien des Dehnens und Zerrens. Das Ensemble agiert mit unergründlicher Logik im Gewirr der Stimmen, formt die Bedeutungsfragmente, die Gesangssplitter, all die synthetisch gehäckselten foreign tongues, die Musik und das Geräusch in körperliche Emotionen und zwischenmenschliche Schau-Beziehungen um.

Choreografien sind mobile Designs, ätherische Konstruktionen. Die Bühne, die sie brauchen, ist eine Foucault’sche Heterotopie, ein „Gegenraum“, der sich allen anderen Räumen gleichsam widersetzt. Diese Zwischenwelt wird den akustisch-tänzerisch definierten Kunstfiguren, die sich da herausbilden, zum Spielfeld. Selbstbestimmt denken sie, auf der Suche nach sich selbst, die klingenden Räume neu, dringen in fremde Zonen vor.

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Das Phantasma der Überwindung von Kraftgrenzen und Formzwängen, der physischen Erweiterung, ist in der Popkultur dominant: Wir phantasieren von Mutationen, von übermenschlichen Fähigkeiten, verzauberten, erweiterten, verbesserten Körpern, sind in unseren Tagträumen und Nachtbildern stets anderswo, „außerhalb“. Der Körper, in dem man gefangen ist, darauf weist Michel Foucault hin, bleibt ein Fremder, ein Rätsel. Erst im Akt der Liebe, in der Berührung durch den Anderen, holt der Körper sich selbst ein, werden seine unsichtbaren Teile erkenn- und fühlbar. Die Umarmung spielt in Models of Reality folgerichtig eine zentrale Rolle: Wenn die fluiden Figuren, verwandelt durch den sehr konkreten material noise, der sie wie eine Schutzhaut umgibt, sich gegenseitig umfassen, sich ineinander blenden, werden sie skulptural. So wird der „Gegenraum“ von jenen „Gegenkörpern” erobert, die mit ihm buchstäblich korrespondieren, ihm erst Genüge tun.

Form follows function, der Zweck legitimiert die Mittel; es liegt aber etwas Gespenstisches in dem Begehren, Menschen zum „Funktionieren“ zu bringen, sie so radikal zu „optimieren“, dass sie bruchlos ineinander aufzugehen drohen. Aber unter dem dünnen Eis der Anpassung an Ökonomie und Anti-Ornamentalismus liegen Subversion, Resistenz und Extravaganz: Die Körper, die in Models of Reality entworfen werden, können ihren utopischen Kern nur erreichen, indem sie dem Funktionalismus, dem sie verzweifelt hinterherzujagen scheinen, mit jeder ihrer verschwenderischen Bewegungen leise Hohn sprechen.

Text: Stefan Grissemann
04.12.2020

Trafo Budapest, HU

06.06.2020

Tanz.Ist Dornbirn, AT

04.06.2020

Tanz.Ist Dornbirn, AT

07.12.2019

Shakespeare Theatre Gdansk, PL

01.06.2019

Burgenländische Tanztage, Eisenstadt, AT

23.02.2019

Tanzquartier Wien, AT

22.02.2019

Tanzquartier Wien, AT

21.02.2019 (premiere)

Tanzquartier Wien, AT

dates

Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Choreografische Assistenz: Stephanie Cumming
Komposition, Sound: Andreas Berger
Licht Design, Szenografie: Thomas Jelinek
Kostüme: Stefan Röhrle
Theorie, Text: Stefan Grissemann
Dramaturgische Begleitung, Recherche: Thomas Jelinek, Marlies Pucher
Stage Management: Roman Harrer
Foto- und Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Internationale Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent
Company Management, Produktion: Marlies Pucher

Produktion: Liquid Loft in Kooperation mit Tanzquartier Wien

Liquid Loft wird gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) und dem Bundeskanzleramt für Kunst und Kultur (BKA) 

credits

der standard 23.2.2019

„Models of Reality“: Im Knarzen der smarten Spaßmaschine / Helmut Ploebst

Eine Uraufführung der Wiener Company Liquid Loft unter ihrem Choreografen Chris Haring im Wiener Tanzquartier Für Liquid Loft befindet sich der menschliche Körper schon längst im Zustand seiner Automatisierung. Das zeigt die Wiener Company unter ihrem Choreografen Chris Haring gerade mit der Uraufführung von Models of Reality im Wiener Tanzquartier.

Ein perfekter Titel – nicht nur für Harings Performance, sondern ganz generell für den zeitgenössischen Tanz. Denn der entwirft immer wieder dynamische Modelle davon, wie sich Gesellschaften den menschlichen Körper kulturell „einverleiben“.

Nach diesem Prinzip bewegen sich in Models of Reality acht Frauen und Männer durch eine exakt geometrische Bühnenarchitektur (Thomas Jelinek). Der Programmtext nennt die Referenz „100 Jahre Bauhaus“ für die Gestaltung. Das erinnert an die tanzenden Figurinen des berühmten Oskar Schlemmer und überdies daran, dass Bauhaus-Impulse über den Umweg USA auch die Entwicklung des postmodernen Tanzes beeinflusst haben.

Körperautomaten, Maschinentänzer

Schlemmers Gestalten bauten schon auf der Faszination des klassischen Balletts für Körperautomaten (Coppélia, Puppenfee) auf und waren mit den Maschinentänzern der russischen Avantgarde verwandt.

Die Automatisierung der Liquid-Loft-Körper zeigt den großen Sprung nach vorn: in Form der Invasion des menschlichen Körpers durch „smarte“ Technologie. Deren Monstrosität ironisiert Haring seit gut fünfzehn Jahren immer wieder neu. Bei Models of Reality wird das etwa in einem brillanten Loop-Solo der Tänzerin Katharina Meves besonders deutlich.

Auch dieses Liquid-Loft-Stück gelangt erst durch den raffinierten Sound von Andreas Berger zu seiner wahren Tiefe. Die Körper knarzen, knirschen und knacken in Reibung mit unsichtbarem, wie unter die Haut gedrungenem Material. Sie sondern Wort- und Satzfetzen und Teile eines Dylan-Songs (You’re No Good) ab und bilden, bevor sie endgültig stecken bleiben, eine Spaßmaschine aus Fleisch und Tod. Fazit: extrem gelungen.

der standard, 19.2.2019

Choreograf Chris Haring: Kämpfer gegen verzerrte Körperbilder / Porträt Helmut Ploebst

Er ist eine fixe Größe in der heimischen Tanzszene, seine Figuren bewohnen fluide Zwischenwelten.

Es gibt Personen, es gibt Typen, und es gibt „Liquid-Loft-Charaktere“. Mitten in einem Wiener Café, aber doch an einem Seitentisch ein Treffen mit Chris Haring. Es muss schnell gehen, weil der Künstler in den Proben für ein neues Stück steckt. Also zur ersten Frage: Was sind Liquid-Loft-Charaktere? Harings Beschreibung, knapp gefasst: in Zwischenwelten tanzende Figuren, die sich ob ihrer Eigenentfremdung trotz ständiger Selbstsuche immer wieder neu verlieren.

Der Bautrupp dieser Welten heißt Liquid Loft und setzt sich aus einer Gruppe um den österreichischen Choreografen zusammen. Der hat vor wenig mehr als zwanzig Lenzen eine für heimische Verhältnisse geradezu traumhafte Karriere – Goldener Löwe der Biennale von Venedig inklusive – begonnen. Und zwar 1996 im Wuk mit einem Stück, das den nicht ganz nüchternen Titel Cephalopods. Tanzzeitlose Kopffüßer im Tempodrom der Realität trug.

Kein Kunstfuzzitum

Widersprüche muss man leben können. Wie damals wirkt Chris Haring auch heute mit 48 so gar nicht überkandidelt. Vom Typ her ist er zwar näher bei Bruce Willis als bei Jan Böhmermann, aber es reicht weder für Hipster noch Macho. Haring zeigt Zurückhaltung statt Kunstfuzzitum, Ironie und Selbstzweifel. Er ist geradlinig, doch nicht richtig unkompliziert. Gutmütig ja, aber er sagt’s, wenn ihm etwas nicht passt.

Jetzt im Café würde er lieber über die Probleme der freien Tanzszene reden als über sich. Nur ungern lässt er sich davon abbringen, schließlich ist der gebürtige Burgenländer dieser Szene seit Beginn seiner Laufbahn sehr verbunden. Er selbst wurde erst als Tänzer bei Bert Gstettners Tanz*Hotel – aber auch zum Beispiel im berühmten Londoner DV8 Physical Theatre – auffällig, bevor er sich endgültig auf seine Arbeit als Choreograf stürzte.

Heute weist seine Werkliste rund 30 Stücke wie Mush:Room, Deep Dish oder Candy’s Camouflage auf. Etliche Frühwerke, etwa Die Geschichte der Eliza D. (1992), verschweigt Haring heute diskret. Ebenso, dass er nach seiner Ausbildung in Wien und New York bereits vor Liquid Loft eine Gruppe namens Grenztanz hatte und in den Neunzigern ein Festival in der burgenländischen Cselley Mühle leitete.

„Körper-Junkie“

Nach einer spektakulären Kooperation mit Multimediakünstler Klaus Obermaier zauberte Haring nicht weniger als ein eigenes Universum auf die Bühne. Bewohner dieses Kunstweltraums sind ebendiese realitätsverschobenen Figuren, die er „Liquid-Loft-Charaktere“ nennt – so konsequent gezeichnet, dass sie beinahe wie (Anti-)Helden einer Serie wirken.

Tatsächlich arbeitet Chris Haring gerne in Werkreihen. „Weil ich es meistens nicht schaffe, in einem Stück fertig zu werden“, behauptet er. Außerdem ist es ihm wichtig, über „längere Zeit mit denselben Leuten“ verschiedene Formate zu generieren. Zu seinen eingefleischten künstlerischen Partnern bei Liquid Loft gehören der Musiker Andreas Berger, der Dramaturg Thomas Jelinek und die Tänzerin Stephanie Cumming. Mit ihnen hat er dieses Biotop seines künstlerischen Schaffens auch gegründet. Damals, 2005, wurde bereits deutlich, dass ein Liquid-Loft-Charakter stets am Rande des Zerfließens, ein „Körper-Junkie“ und „ursprünglicher Fremdkörper“ sein musste. Dies setzte Cumming manifesthaft in dem hinreißenden Solo Legal Errorist um.

Irrungen und Wirrungen

Seither zielen die Wirrungen der Haring’schen Körper auf alles, was unter den Oberflächen von ganz normalen Leuten abgeht, deren Körperverständnis sich in medialen Zerrspiegeln formt. Liquid-Loft-Charaktere geraten zwischen Science-Fiction, Pop und Optimierungswahn, Kultur- und Gender-Shifts in abseitige Situationen. Ihre vibrierenden Gestalten quetschen sich gerne durch Paradiesgärten, während ihre Lippen zu Sounds aus der Dose tanzen. I

n der jüngsten Liquid-Loft-Serie, Foreign Tongues, geht es seit 2017 in verschiedenen Varianten um Gefühlswelten, die durch fremde Sprachen, Dialekte und Slangs wuchern. Ab Donnerstag werden deren Weiten mit der Uraufführung von Models of Reality im Tanzquartier Wien um eine weitere Dimension wachsen: Jetzt verirren sich auch die Sprachen der Dinge zu den Tänzern – und dem Publikum.

tanz.at, 23.2.2019

Chris Harings akustische Körperarchitektur / Edith Wolf Perez

Mit zarten, grünen Lichtlinien wird ein Haus in den schwarzen Bühnenraum gezeichnet, in dem ein einzelner Tänzer anfängt seinen Körper zu strecken, zu beugen, zu verrenken. Dabei knatscht es ganz gewaltig. Ist es der Sound des Körpers oder ein Widerhall des „virtuellen“ Gebäudes? „Models of Reality“ verortet futuristische Menschen in einem akustischen Raum, in dem sie in einer Art Geräuschsprache miteinander kommunizieren.

Mit seiner raffinierten Verschränkung von Technik und Live-Performance lotet Chris Haring und seine famose Gruppe Liquid Loft das Verhältnis von Mensch und Maschine aus, ein Thema, das auch die AusdruckstänzerInnen vor hundert Jahren beschäftigte. Der Unterschied zu damals ist keineswegs ein rein formaler, denn Haring geht einen bedeutenden Schritt weiter: seine TänzerInnen haben die Technik in der Hand.

Nach jahrelanger Auseinandersetzung mit visuellen Medien, konzentriert sich Liquid Loft in seiner Serie „Foreign Tongues“ auf akustische Signale. Aus den Lautsprechern, den die PerformerInnen in der Hand halten, dröhnen Stimmen, Wasserglucksen, Knarren, Knatschen, Knirschen, Ächzen, Stöhnen – Geräusche, die sich gleichzeitig in ihren Körperbewegungen manifestieren. Ihre Äußerungen kontrollieren sie über kleine i-Pods. Dialoge entstehen, wir verstehen sie über die Körperhaltungen und die Intonation, die verzerrten und gehäkselten Geräusche selbst klingen wie sinnloses Gebrabbel, das sich zu einer Kakophonie steigert, wenn sich die TänzerInnen zu einer Gruppe formen und (wohl kontrollierte) Knäuel bilden.

Als ZuschauerIn ist man eine Stunde lang dieser Welt ausgeliefert, in der diese futuristischen Menschen miteinander spielen, interagieren, raufen, einander zärtlich umarmen. Ein innovatives Kreativ-Team – neben dem Choreografen Chris Haring wirkt Andreas Berger als Komponist und Sounddesigner und Thomas Jelinek als Lichtdesigner und Szenograf – und die großartigen TänzerInnen Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio und Hannah Timbrell machen daraus ein faszinierenden Erlebnis.

Die akribische Inszenierung verordnet den DarstellerInnen ein überaus diszipliniertes Agieren, hält sie in Dauerspannung, damit die akustischen und körperlichen Teile zueinander passen. Man kann das als dystopische Weltsicht interpretieren, doch ich meine, Harings „Models of Reality“ sind nicht wertend. Vielmehr konzentriert sich seine künstlerische Forschung mit beinahe wissenschaftlicher Distanz auf eine posthumane Zukunft, die bereits begonnen hat. Die Frage, inwieweit sich in dieser Welt die Kommunikation noch an der menschlichen Sprache orientiert, ist eine äußerst spannende.

vorarlberger nachrichten, 22.2.2019

der koerper als klingende maschine

wiener zeitung, 22.2.2019

Der heimische Choreograf Chris Haring und sein Ensemble Liquid Loft verleihen den bewegten Körpern eine Geräuschkulisse / Verena Franke

Es knarrt und quietscht, fast wie eine alte Lederhose, wenn sich der Performer wellenartig und geschmeidig bewegt. Bläuliches Licht, in feinen Linien auf der sonst dunklen Bühne, simuliert Räume. Man muss sich dem Geräusch hingeben, um nicht der zuvor ziemlich dreisten Gänsehaut freien Lauf zu gewähren. Nach und nach schließen sich weitere Performer den Bewegungen an, was zufällig und somit improvisiert wirkt, ist bei Chris Haring bis ins Detail inszeniert.

Diesmal zeigt der heimische Choreograf „Models of Reality“ im Rahmen seiner Produktionsreihe „Foreign Tongues“, für die er unterschiedliche Sprachen, Slangs und Töne aufgenommen hat. Während seine letzte Performance „Babylon (Slang)“ beim vorjährigen Impulstanz-Festival in den Hofstallungen zur Aufführung gebracht wurde und der Zuseher sich als aktiver Beobachter zwischen den Performern bewegen konnte, ist Haring nun zu einer distanzierten Guckkastenansicht zurückgekehrt. Auch diesmal stattet er im Lauf der Performance die Tänzer mit kleinen Lautsprechern aus, verwendet seine Sprachen-Aufzeichnungen, um skurrile Charaktere zu basteln. Seine erprobte Verbindung von Ton und Bewegung ist teilweise komisch.

Doch richtet Haring seinen Fokus in „Models of Reality“ auf Geräusche. Es sind Geräusche des Alltags, die man zwar hören könnte, aber selten wahrnimmt. Jetzt aber schon: Diesen Tönen ordnet man instinktiv eine Situation zu. Es klingt wie der Löffel, der im Kaffeehäferl gegen das Porzellan schlägt oder wie ein Fuß, der in der Dusche über die Emaille schleift. Quietschen, Knistern, Knarren und Knirschen begleiten und führen die acht Performer in ein fließendes Miteinander im Wechsel zwischen häufigen Duetten, Trios und einem großen Ganzen mit bizarren Körperskulpturen, die in Posen festgehalten werden. Längen entstehen in der 60-minütigen Performance dann, wenn zu zeitintensiv auf einen weiteren szenischen Höhepunkt hingearbeitet wird. Als gegen Ende ein Geräusch zu hören ist, das als lautes Kratzen über ein Mikro bezeichnet werden kann, die Performer sich teils zuckend in wiederkehrenden Sequenzen auf die Zuschauer hinbewegen, wird es gruselig und mitreißend. Nicht nur aufgrund der Inszenierung, sondern auch dank dieses Ensembles aus herausragenden Performern wie Stephanie Cumming, Luke Baio oder Dante Murillo.

reviews

Lorenzo De Chiffre
über Models of Reality von Liquid Loft

Beim ungeübten Auge, und als solches muss ich mich ehrlicherweise bezeichnen, hinterlässt die neue Performance von Liquid Loft Models of Reality den Eindruck großer Komplexität. Die faszinierende Gruppe von acht Tänzer*innen bildet in der einstündigen Aufführung eine hypnotisierende Aufeinanderfolge körperbetonter Tableaus. In einem fluoreszierenden Raumgitter erzeugt sie eine Myriade von Assoziationen.

Der menschliche Körper ist in diesem Werk des Choreografen Chris Haring, wie im zeitgenössischen Tanz im Allgemeinen, ganz klar der Hauptakteur. In der Architektur hingegen, dem Kunstbereich, in dem ich beheimatet bin, nimmt der Körper eine weniger eindeutige Rolle ein. Jenseits des Körpers als konkrete Maßeinheit (Fuß, Arm, Schritt) und der Vorstellung vom Menschen als Abbild von göttlichen Proportionen (Leonardo da Vincis „vitruvianischer Mensch“) wird er in der Praxis auffallend abstrakt behandelt. Somit werden zahllose endlose Bauformen und Räume erdacht bzw. produziert für einen manchmal unbekannteren, manchmal spezifischeren, aber immer irgendwie allgegenwärtigen phantomartigen Körper, der diesen gebauten Rahmen durchqueren und bewohnen soll. Was konkret übrig bleibt, sind Spuren der Nutzung – die zermalmende Reibung des Körpers an den Oberflächen des gebauten Umfelds.

Um diese Kluft zu überbrücken, habe ich im Vorfeld zwei Proben von Liquid Loft in deren Proberaum, einer kleinen Fabrikhalle in Favoriten, besucht. Im Vergleich mit der tatsächlichen Aufführung in der TQW Halle G ist bereits hier eine erste Verschiebung der räumlichen Situation, eines der Grundthemen des Stücks, explizit gegeben. Im deutlich kleineren Proberaum wurde die Choreografie in komprimierter Form erarbeitet. Der Proberaum dient in erster Linie als Modell bzw. Simulation des Realen. Aber darüber hinaus, als Folge der gemeinsamen Erarbeitung des Werks in den unzähligen Probenstunden, ist der Proberaum im Körperbewusstsein der Tänzer*innen gezwungenermaßen als Spur noch präsent, wenn sie auf der Bühne stehen.

RAUM

Der schwarze Bühnenraum ist in neun kubische Felder unterteilt. Dünne schnurgerade blaue Lichtstreifen deuten einige der Seitenkanten an. Der Eindruck entsteht, dass die geometrische Grundform des Kubus entweder noch nicht vervollständigt wurde oder dabei ist, sich aufzulösen. Die erste Assoziation zu diesem sehr reduzierten, aber entsprechend wirkungsvollen Bühnenbild von Thomas Jelinek ist ein digitaler Raum. Als hätte man einen Bildschirm bzw. den sogenannten „model space“ einer herkömmlichen CAD-Software vor Augen. Vor allem von einer erhöhten Position aus wirkt die Bühne, als würde man die isometrische Welt eines Computerspiels betrachten und die Tänzer*innen als Spielfiguren mit individuellen Eigenschaften bzw. „Skins“ sehen. Zahlreiche Bilder aus der Filmwelt – etwa aus dem kultischen Sci-Fi-Film „Tron“ (1982), in dem die Protagonist*innen in ein Computerspiel hineingesaugt werden und in dessen digitalen Labyrinthen zahlreichen Gefahren entkommen müssen, kommen einem in den Sinn. Betrachtet man hingegen den Bühnenraum aus einer frontalen Perspektive, entsteht eine ganz andere Wirkung. Ein bisschen wie in Lars von Triers Film „Dogville“ (2003) sind Räume, die zugleich einzeln und miteinander verschwimmend erscheinen, ablesbar. Aber hinsichtlich der Schnittstelle von Bühnenbild und Architektur ist vielleicht die interessanteste Referenz Friedrich Kieslers Konzept „Raumstadt“ (1925) – ein Raumgestell für wegweisende Bühnenbildmodelle aus dem frühen 20. Jahrhundert und zugleich ein gebautes Manifest in Modellform für eine neue Stadt, die die Auflösung von fixierten Räumen und das Totaltheater als Sinnbild für neue Orte der Gemeinschaft ankündigt.[1]

KÖRPER

Ein männlicher Tänzer in einem einfachen rostroten Leiberl erscheint im Dunkeln. Seine sachten Bewegungen werden von einem Quietschen begleitet, als würde man einen Luftballon verformen. Ein zweiter Tänzer, ebenfalls einfach gekleidet, stößt dazu, es folgt ein schaukelndes Hin und Her, das sich zwischen Umarmen und Wegstoßen bewegt. Nacheinander schließen sich die restlichen Tänzer*innen an. Begleitet von zunehmend bedrohlichem Sound baut sich eine sich ständig verändernde Verfilzung der acht Körper auf der Bühne auf. Zarte Umarmungen wechseln einander in immer größerer Intensität mit körperlichem Aneinanderreiben ab. Die einzelnen Körperteile und die zarten Vermeer-Farben der Kleider vermischen sich durch akrobatische Bewegungen zu einem dynamischen Körperkonglomerat. Diese hypnotisierende Passage, die später im Stück wiederkehrt, löst sich auf, und die Tänzer*innen verteilen sich auf die neun Kuben. Dort werden sie – als wären sie Marionetten – scheinbar über jeweils in Händen gehaltene Lautsprecher mit Alltagsgeräuschen und unverständlichen Gesprächsfetzen animiert. Als würde man an einem alten Radiogerät drehen, erklingen Soundfragmente (Musik, das Geräusch von klirrenden Münzen oder plätscherndem Wasser), die die Protagonist*innen – allein, in Paaren oder Gruppen – tanzen lassen. Diese fragmentierten Bewegungsmuster – scheinbar Ansätze von Interaktionen – werden immer abstrakter. Plötzlich fühlt es sich an, als würde man in einem Mikroskop einen Schwarm von skurrilen Lebensformen betrachten, und das unveränderte Bühnenbild wirkt plötzlich wie ein analytischer Raum für Bewegungsformen. Mit stetig wachsender Intensität der Interaktionen und entsprechender Verdichtung der Tonspur, die zunehmend körperlich spürbar wird, finden Ansätze von Kommunikation statt, die zwischen einfühlsam und streitlustig schwanken.

SOUND

Zwei sich wiederholende Elemente sind einerseits Passagen, in denen ein Tänzer direkt zum Publikum gewandt ein offensichtliches Playback über verletzte Liebe „singt“. Der andere dominierende Sound ist ein als „Stone Floor“ bezeichnetes Geräusch. Dieses kreischende Reiben gegen Stein zieht sich als Motiv in unterschiedlicher Intensität bis zur Kulmination am Ende des Stücks durch. Chris Haring beschreibt dieses Geräusch, „als würde man aus der Welt herausgerissen werden“. Grundlage für das Sounddesign von Andreas Berger ist ein riesiges Archiv von Feldaufnahmen, die während der zahlreichen Tourneen von den Mitgliedern der Kompanie, den „Liquid People“, aufgenommen wurden. Diese Fragmente wurden durch digitale Manipulation und Verzerrung zu einem komplexen Mosaik aufgebaut, mittels Lautsprecher auf den Raum verteilt und so zum neunten Protagonisten gemacht.

THEORIE

In Models of Reality bezieht sich Chris Haring auf zwei unterschiedliche Begriffswelten, die er durch sein Medium Tanz auf den Prüfstand stellt bzw. die als referenzieller Rahmen dienen. Erstens auf den Doppeltext von Michel Foucault „Die Heterotopien. Der utopische Körper“, ursprünglich zwei Radiovorträge aus dem Jahr 1966. In diesen frühen Kurztexten skizziert der französische Philosoph die komplexe Verbindung zwischen gebauten Räumen und dem menschlichen Körper. Diese Verflechtungen des „Nichtortes des Raumes“ und des „Nichtortes der Sprache“[2] finden in Harings Choreografie ihren Ausdruck.

Die zweite Begriffswelt ist an das Diktum der Architektur der Moderne angeknüpft: „Form follows function“. Dieses Motto, eingeführt von Louis H. Sullivan in Bezug auf die aufblühende amerikanische Hochhausarchitektur Ende des 19. Jahrhunderts, wurde in den 1920er-Jahren zum Grundpfeiler von moderner Architektur und Industriedesign schlechthin gemacht. Vor allem das Bauhaus verkörperte das Prinzip einer rationalen Basis für die Gestaltung des Lebensumfeldes der Menschen. In der Architektur sind zwei wegweisende Projekte aus dieser Zeit von besonderem Interesse: erstens die „Frankfurter Küche“ von Margarete Schütte-Lihotzky (1926) und zweitens die Studie „Versuch eines graphischen Verfahrens zur Bewertung von Kleinwohnungsgrundrissen“ von Alexander Klein (1927). In beiden Fällen hat das tayloristische Prinzip der Optimierung von Produktionsabläufen in Fabriken wesentliche Bedeutung. Somit wurde in der Architektur der Versuch gestartet, für die Lebensbereiche des modernen Menschen – vor allem der Hausfrau – einen räumlichen Rahmen zu schaffen, in dem er oder sie wie eine neuzeitliche Ariadne auf unsichtbaren – aber in präzisen Diagrammen vorgegebenen – Pfaden durch die Labyrinthe des Alltags zieht.

Im Gegensatz zu diesem mechanischen Ballett, wie es sich die Architekt*innen der „heroischen Moderne“ vorstellten, wird „Form follows function“ von Haring viel allgemeiner gedeutet. Es geht ihm darum, wie sich menschliche Körper in Kombination mit anderen Körpern zueinanderfügen, flüchtige Zwischenräume bilden und dadurch buchstäblich eine Gemeinschaft bilden können. So gesehen ist die Performance meiner Meinung nach nicht nur als eine Untersuchung des Zusammenspiels zwischen Heterotopien und utopischen Körpern zu verstehen, sondern tatsächlich auch (mit Ágnes Heller) als ein Ruf nach „Orten, wo Individuen eine Gemeinschaft bilden können – zur gemeinsamen Erhebung, Kontemplation im Bereich des ‚absoluten Geistes‘, ohne die persönliche Freiheit aufzugeben. Momente des Glücks kann man nach wie vor genießen. Sie sind jetzt die verkörperten utopischen Realitäten.“[3] So habe ich zumindest die Begegnung mit Chris Harings Liquid Loft erlebt.

 

Lorenzo De Chiffre (geb. 1974) ist freischaffender Architekt und Autor sowie Senior Lecturer an der TU Wien. Er hat an der Königlich Dänischen Kunstakademie und der University of East London studiert. Mitarbeit und Projektleitung bei Caruso St John Architects in London sowie in mehreren Büros in Wien, wo er hauptsächlich an größeren Wohnbauprojekten beteiligt war. 2016 promovierte er zum Wiener Terrassenhaus, 2017 kuratierte er die Ausstellung „Das Terrassenhaus. Ein Wiener Fetisch?“ im Architekturzentrum Wien. In seiner Lehre und Forschung befasst sich Lorenzo De Chiffre in erster Linie mit architektonischen Entwurfsstrategien. Zu diesem Thema hat er 2018 das Buch „Ikonen. Methodische Experimente im Umgang mit architektonischen Referenzen“ als Mitherausgeber publiziert. 2018 wurde er außerdem an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien mit dem „Best Teacher Award“ ausgezeichnet.

[1] Friedrich Kiesler, „Manifest. Vitalbau – Raumstadt – Funktionelle Architektur“, in De Stijl, Heft 10/11, Leiden 1925 (Reprint 1968); siehe Barbara Lesák, Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923–1925, Wien 1988, S. 168ff.
[2] Daniel Defert, „Raum zum Hören“, in Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. (Berlin: Suhrkamp, 2013)
[3] Ágnes Heller, Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?, Wien, Hamburg 2016.

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