blue moon you saw...
In BLUE MOON you saw … befinden sich die Charaktere von Liquid Loft in einer Welt der ständigen Gegenwart. Es ist eine Welt, die sich in jedem Augenblick selbst genügt, die jede Zuflucht zur Erinnerungen unmöglich macht. In dieser Welt finden sich posthumanistische Denkansätze und visuelle Bezüge zur Nouvelle Vague. Auf der Suche nach verlorenen kulturellen Referenzen schlittert Liquid Loft dabei durch Rituale, die keiner offensichtlichen Liturgie folgen und stößt auf die Ambivalenz der Verweigerung und die Poesie der Distanz. Die solistischen Kompositionen aus der Vorgängerarbeit Stand-Alones ( polyphony ) verbinden sich mit der entrückten Atmosphäre von Alain Resnais’ Filmklassiker Letztes Jahr in Marienbad und Elvis Presley’s Interpretation eines Songs, der die Sehnsucht nach Verbundenheit als Romantik des Alleinseins feiert: Blue Moon.
Eine Choreografie der Vereinzelung wird hier durchgespielt, eine speziell koordinierte Isolation in der Gruppe. Die Charaktere stehen für sich, sind zusammen allein, halten dringend Abstand voneinander: Im Dis-Tanzpalast sind die Räume verteilt und die Fronten geklärt. Die solistischen Kompositionen aus der Vorgängerarbeit Stand-Alones (polyphony) verwandeln sich in der jüngsten Liquid-Loft-Produktion in ein Ensemblestück zurück, in dem jedoch Wert auf Autonomie und Bewegungsfreiheit gelegt wird. Die Figuren existieren in gegenseitiger Zuwendung, scheinen aber aus unterschiedlichen Zeitschichten und Dimensionen zu stammen; im Miteinander entsteht ein neues Nebeneinander.
Ein filmisches Enigma ist die Basis dieses Abends: Alain Resnais’ Trance-Klassiker L’année dernière à Marienbad / Letztes Jahr in Marienbad (1961) gibt den Rhythmus und die Dynamik des Spiels in Blue Moon You Saw ….vor. Marienbad ist das Drama einer sozialen Lähmung, einer Erstarrung in kalter Schönheit. Menschliche und steinerne Standbilder vegetieren in einer auf Posen und Routinen reduzierten Welt nebeneinander. Der Film handelt von amourösen Manövern und der Unzuverlässigkeit der Erinnerung, von Eifersucht und Machtspielen, von Imagination und Fiktion, vielleicht auch: vom Jenseits, vom Reich der Toten und von unversehens wieder auftauchenden Phantomen. Marienbad ist eine Widerrede, eine Gegenthese zu den Vorlieben der noch jungen Nouvelle Vague, eine Art Einspruch zu Godards Jump-Cuts und Truffauts narrativem Klassizismus, zur revolutionären Geste und zur politischen Zuspitzung. Resnais’ geisterhaftes Society-Melo ist den Stoffen und Formen der jungen Hipster der Neuen Welle meilenweit entrückt – wenn es auch ein spannendes Double-Feature mit Godards späterem Meisterwerk Le mépris (1964) ergäbe, das über eine ähnliche Sujetkonstellation verfügt; eine Frau zwischen zwei Männern, die um die Macht ringen: zwei Produktionen über Existenz und Kino, die eine bunt, analytisch und ironisch, die andere in glitzerndem Schwarz und Weiß, geheimnisvoll verschattet.
Jede der auftretenden Gestalten in Blue Moon You Saw … spult ihr Programm, ihre ganz eigenen Prozesse ab, gleichsam in Endlosschleife, vernarrt in die Sicherheit der Wiederholung. Dabei sind sie freigestellt: Die Weite des Raums zwischen den Körpern ist entscheidend, überlebenswichtig. Die Welten, die zwischen ihnen entstehen, erscheinen fremd: Die Strenge der von ihnen vollzogenen Rituale wird durch die Sprunghaftigkeit der Motivwechsel noch kryptischer; diese fremden Individuen treffen virtuell aufeinander, jenseits von Zeit und Raum.
Die Alleinstehenden tragen keine Träume in ihren Herzen, denn sie sind ohne Liebe, so will es der zartbittere Rodgers-&-Hart-Schlager „Blue Moon“; aber Traum und Romanze sind nicht alles, denn stand-alones sind auch, diesem Begriff entsprechend, frei, selbst- und eigenständig. Sie suchen Gesellschaft, aber sie brauchen sie nicht. Die Hoffnung lebt, die Verlassenheit birgt eine Chance. Der Blue Moon ist etwas Rares, bei aller Traurigkeit auch Kostbares, davon zeugt die englische Redewendung „Once in a blue moon“. In einem Jahr mit 13 Monden strahlen die Nächte heller als üblich.
Zwei Songs aus einer versunkenen, kaum noch erinnerten Welt geben diesem Projekt einen zusätzlichen Rahmen – beide Stücke sind berühmt, aber gleichsam körperlos, entkoppelt von den dunklen Zeiten, aus denen sie stammen: Neben dem titelgebenden „Blue Moon“, einer Komposition von 1934, kommt hier eine Country-Hymne zum Einsatz, die Hank Williams mit seinen Drifting Cowboys 1949, als B-Seite einer Single veröffentlicht hat. „I’m So Lonesome I Could Cry“ ist eine Lektion in emotionaler Ambivalenz: Feelgood-Musik über das Leiden, eine sanft beschwingte Hymne an die Natur, die Einsamkeit, an die Melodieseligkeit und die Todtraurigkeit. Der Mond hat auch in diesem Lied seinen festen Auftritt: „I’ve never seen a night so long / When time goes crawling by / The moon just went behind the clouds / To hide its face and cry“. In den langen Nächten, wenn die Zeit fast stillzustehen scheint, zieht sich auch der Mond in seine harmonische Traurigkeit zurück.
„Blue Moon You Saw …“ nimmt einen Lieblingstopos im Werk von Liquid Loft wieder auf: den Maschinenmenschen. In einer Gesellschaft, die wie ferngesteuert agiert, im Zwischenreich der Untoten, sind die Menschen nur noch bewegte Skulpturen, geben rätselhafte Zitate von sich, sind Schatten ihrer selbst. Sie spielen Szenen aus der Ära des Posthumanismus durch, in der Glück und Unglück bis zur Ununterscheidbarkeit nahe beieinander liegen. An die alle paar Minuten jäh kippenden Stimmungen sind sie gewöhnt, sie nehmen diese stoisch hin. Diese transmenschlichen Figuren sind künstliche Intelligenzen, Protagonisten einer fantasierten „Wirklichkeit“.
Der versunkene Ton, der sich durch die träumerische Musik und die entrückten Filmdialoge herstellt, bereitet den Sprung zwischen den Zeiten vor: Es geht um Erinnerungen, Visionen, Wunsch- und Angstbilder. Die Selbstvergessenheit der handelnden Personen ist auf die Gegenwart bezogen. Es ist, als wären sie in lange zurückliegenden Zeitschichten abgetaucht, um an Erinnertes, Verschüttetes zu kommen; nur das ins Körpergedächtnis für immer und unauslöschlich Eingeschriebene hält sie weiter in Bewegung. Sie kommentieren Unsichtbares (oder agieren nach unbekannten Stimuli), sie murmeln, flüstern, klagen, lachen, und sie brüllen lautlos.
Alain Robbe-Grillet, Vertreter des Nouveau Roman, hat das Drehbuch zu Marienbad verfasst. Inspirieren ließ er sich dabei von einem Roman, den der argentinische Schriftsteller Adolfo Bioy Casares 1940, mit 25 veröffentlicht hatte. Jene surrealistische Erzählung, genannt La invención de Morel, dreht sich um einen Mann, der auf der Flucht vor der Justiz auf eine abgelegene Insel gerät, wo er eine sich die Zeit vertreibende Luxusgesellschaft entdeckt, die in aus der Zeit gefallenen Kostümen und in wiederkehrenden Riten dem Müßiggang frönt. Die Menschen nehmen von ihm keinerlei Notiz. Sie sind bloß dreidimensionale, „lebensechte“ Aufzeichnungen – festgehalten von einer Maschine, die (sinnlicher als das Kino) auch Gerüche fixieren kann. Morels Erfindung gilt als eines der ersten Beispiele einer genuin südamerikanischen Science-Fiction, es ahnt bereits die digitale Technologie der Virtuellen Realität voraus. Auch Blue Moon You Saw… strebt implizit auf den Punkt zu, an dem die Körper sich aufzulösen, zu verschwinden beginnen – und in der Welt der Schlagschatten, der sie sanft übergeben werden, glückselig verloren gehen.
Stefan Grissemann
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
dates
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Choreografische Assistenz: Stephanie Cumming
Komposition, Sound: Andreas Berger
Licht Design, Szenografie: Thomas Jelinek
Theorie, Text: Stefan Grissemann
Stage Management: Roman Harrer
Foto- und Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Internationale Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent
Company Management, Produktion: Marlies Pucher
Eine Koproduktion von Liquid Loft und ImPulsTanz Vienna International Dance Festival.
Première am 6. Oktober im Rahmen des ImPulsTanz Specials im Odeon Theater Wien.
Liquid Loft wird gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BKMÖS)
credits
tanz.at, 9.10.2020
Impulstanz feiert 15 Jahre Liquid Loft / Edith Wolf Perez
Nach dem großartigen Outdoor Workshop-Programm „Public Moves“ im Sommer, nimmt Impulstanz im Oktober den Performanceteil des Festivals auf. Als einer der erfolgreichsten Choreografen des Landes kann Chris Haring nun auf 15 Jahre kontinuierlicher und konsequenter Arbeit mit seiner Compagnie Liquid Loft verweisen und feiert dies mit einer neuen Produktion. Der Qualität unserer Zeit entsprechend wird dabei keine ausgelassene Geburtstagsfete geschmissen, sondern die Isolation zelebriert.
„Blue Moon you saw …“ ist eine weitere Folge der Serie „stand-alones“. Das kreative Team besteht neben Haring aus den Liquid Loft-Gründungsmitgliedern, dem Musiker Andreas Berger, dem Dramaturgen Thomas Jelinek, der auch für Bühnenbild und Lichtdesign verantwortlich zeichnet und der Tänzerin Stephanie Cumming, aus den langjährigen Liquid-Loft PerformerInnen Anna Maria Novak, Katharina Meves, Luke Baio und Arttu Palmio sowie den seit 2017 dazu gestoßenen Dong Uk Kim, Hannah Timbrell und Juan Dante Murillo. Sie sind ein eingespieltes Team, das die subtilen Cues reibungslos aufnehmen und so den dramturgischen Ablauf weiterspinnen. Im Unterschied zu „Stand-Alones (Polyphony)“, das letztes Jahr für das Ludwig-Museum entstanden ist und in dem jeder Darsteller einen eigenen Raum bespielte (tanz.at berichtete), sind sie nun zwar wieder gemeinsam auf der Bühne, allerdings verfolgt auch hier jeder von ihnen seine eigene Geschichte. Nur selten finden sie zu einem Duo oder gar zu einer Gruppe zusammen. Die Playback-Methode, die die PerformerInnen über einzelne Lautsprecher selbst steuern, stand auch hier im Mittelpunkt des Geschehens. Dennoch sind sie nicht selbstbestimmt, sondern wirken wie ferngesteuerte hybride Maschinenwesen.
Als Referenzen nennt Haring Alain Resnais‘ Film „Letztes Jahr in Marienbad“ und die Nouvelle Vague, deren, kühle, erstarrte Ästhetik das Bühnengeschehen prägen. Von den Einzelaktionen bleibt nach 65 Minuten allerdings wenig in Erinnerung. Das Konzept, das Haring bereits vor Corona entworfen hatte, ist zur Prophezeiung geworden, denn die Distanz, die unsere Zeit gerade prägt, wird in diesem Stück schmerzhaft deutlich. Die spannende Sinnlichkeit früherer Liquid Loft-Produktionen weicht einer Kälte der Vereinsamung. Lediglich die Einspielungen des Titel-gebenden Songs „Blue Moon“ aus dem Jahr 1934 sowie des Country-Liedes „I’m so Lonesome I Could Cry“ von 1949 wecken so etwas wie nostalgische Gefühle und stören die posthumanistische Dystopie.
Zum Jubiläum von 15 Jahre Liquid Loft wird im Anschluss an die Aufführungen von „Blue Moon you saw …“ das mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig preisgekrönte „Posing Project B – The Art of Seduction“ aufgenommen.
der standard, 8.10.2020
Traum und Einsamkeit: Uraufführung von Liquid Lofts „Blue Moon you saw“ / Helmut Ploebst
Wien – Während des Kalten Krieges stand die Welt wiederholt vor der nuklearen Apokalypse. Auch 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde und die Sowjetunion die Zar-Bombe zündete, den wuchtigsten Wasserstoffkracher aller Zeiten. In diese Zeit passte Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad, in dem Spielfiguren Dinge tun, die sich wunderbar jeglicher Vernunft und Nützlichkeit entziehen.
Etwas ganz Ähnliches bestimmt Liquid Lofts neues Stück Blue Moon you saw, dessen Uraufführung Impulstanz gerade im Wiener Odeon zeigt. Vier Frauen und ebensoviele Männer verwandeln die tempelähnliche Bühne in einen Ort zwischen Traum und Jenseits. Sie alle tragen je einen kleinen Lautsprecher mit sich, aus dem etwas spricht, dem sie ihr Verhalten anpassen.
Schon seit langem sind die Figuren in den Arbeiten des Liquid-Loft-Choreografen Chris Haring ihrer eigenen Stimmen beraubt. Blue Moon you saw zeigt jetzt acht intensiv mit sich selbst beschäftigte Individuen, die zugleich exzessiv fremdbestimmt und damit frei von allem Eigenen sind: Narzissmus und Selbstentfremdung fügen sich nahtlos ineinander. Obwohl Letztes Jahr in Marienbad erklärtermaßen ein wichtiger Einfluss gewesen ist und wieder ein Kalter Krieg hinter Covid und Klimakrise dräut, bleibt Harings Stück atmosphärisch nüchterner als Resnais’ Film.
Die Einsamkeit der Tänzer im Odeon hängt an einem gegenwärtigen Albtraum: Sie wechseln unablässig ihre Stimmen und tanzen ab in ein Nirwana endloser digitaler Brabbel-Kommunikation. Das passiert in einer überaus detailliert und präzise gearbeiteten Choreografie, bei der die Liquid-Loft-Tänzer ihre darstellerischen Fähigkeiten voll zur Wirkung bringen.
kurier, 8.10.2020
Gemeinsam einsam mit Elvis Presley / Peter Jarolin
Das Festival ImPulsTanz musste im Sommer coronabedingt leider abgesagt werden; mit dem Format „PublicMoves“ konnte Intendant Karl Regensburger aber dennoch Tausende Menschen erreichen und zum Mittanzen einladen. Nun aber wird wieder für Publikum getanzt. Und zwar im Wiener Odeon, wo etwa das 15 jährige Bestehen der Truppe Liquid Loft rund um Mastermind Chris Haring mit mehreren Projekten (bis inklusive 16. Oktober) zelebriert wird.
Den Auftakt machte dabei eine Uraufführung: „BLUE MOON you saw …“ (noch bis 10. 10.) – die neue Arbeit von Chris Haring zum Thema Vereinzelung und Einsamkeit. Dieses Stück ist der Nachfolger von Harings „Stand-Alones (polyphony)“, die vergangenes Jahr bei ImPuls-Tanz zu erleben war. Damals kreierten die Tänzerinnen und Tänzer von Liquid Loft auch räumlich strikt voneinander getrennt ihre jeweils eigenen Bewegungswelten.
Cineastische Welten
DiesemAnsatz ist Haring – zumal in Zeiten einer globalen Pandemie – treu geblieben. Doch sind sie bei „BLUE MOON you saw …“ als Ensemble auf einer Bühne. Körperlich zueinanderfinden können sie dennoch nicht. Denn Haring nimmt hier Elvis Presleys Song „BLUE MOON“ als musikalische Folie zum Thema Distanz, würzt Presley aber mit dem Kinoklassiker „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais aus dem Jahr 1961 und bündelt seine cineastischen Bildern zu brillanten Studien über das Mit- und Gegeneinander. Social Distancing inklusive. Denn in den betörenden Studien über Gemeinsamkeit und Einsamkeit (für letztere steht ja Presleys Hit auch) kreiert Haring sehnsuchtsvolle Szenen, arbeitet optisch mit Scherenschnitten und Tableaus Vivants.
Ja, es gibt sie, die gemeinsamen Tanzrituale, sogar die Pas de Deux. Aber keiner der famosen acht Tänzerinnen und Tänzer kommt dem anderen näher. Die Begegnungen erfolgen stets auf Distanz, auch wenn die Körpersprache und die Gesten synchron sind, wenn der teils lautlose, teils verstärkte Schrei nach Nähe in ein dystopisches Ganzes mündet. Jeder bleibt für sich allein.
Auch in den Film-Zitaten – Haring liebt bekanntlich Diven beiderlei Geschlechts in ihrer Extravaganz und in ihrem (Selbst-Mit-)Leid – ist an Vereinigung nicht zu denken. Das Stück zur Stunde also. Raffiniert gemacht, vielleicht noch nicht ganz fertig. Auf jeden Fall aber eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.
die kronen zeitung, 8.10.2020
Die Einsamkeit der Corona-Welt / Karlheinz Roschitz
Sie sind einsam, fast autistisch. Orientierungslos wandern oder hetzen sie zwischen den Säulen der Halle des Odeons hin und her: Chris Haring, einer der wichtigsten Choreografen Österreichs, zeigt im Odeon anlässlich des 15-jährigen Bestehens seiner Compagnie Liquid Loft die Uraufführung seines neuesten Stücks „Blue Moon you saw “. Schon in seiner Vorgängerarbeit „Stand Alones (polyphony)“ huldigte Haring 2019 der Einsamkeit, dem menschlichen Wesen in seiner Isolation, in seiner immer weiter reduzierten Fähigkeit zu Kommunikation. Als er die Choreografie entwarf, konnte er aber nicht ahnen, welch beklemmende Wirklichkeit seine Sicht auf Vereinsamung durch die Corona-Pandemie bald überholen sollte. „Blue Moon“ ist ein feines, poetisches, in Ästhetik und Bewegungskanon sehr genau gearbeitetes Stück, hinter dem die Idee steckt, dass sich alle in dieser Welt, in diesem dahinfließenden Geschehen stets selbst genügen. In den Erinnerungen „ein Zuhause zu finden“ funktioniert nicht mehr. Und es ist eine Huldigung an den Namen der Compagnie Liquid Loft, weil sich – wie Haring selbst sagt – Tanz „verflüssigt“.
Haring führt uns in eine Dämmerwelt der Träume, wenn er die entrückten Bilder von Alain Robbe-Grillets & Alain Resnais’ berühmtem Novelle-Vague-Film „Letztes Jahr in Marienbad“, den Song „Blue Moon“ (gesungen von Elvis Presley) oder Hildegard Knefs „Ostseelied“ mit der Zeile „Ich hasse die gläserne Bläue des Himmels“ beschwört. Andreas Bergers Klangkulisse taucht das Material in eine vibrierende, flimmernde Geräuschwelt. Nur ein Einwand: Wer Harings choreografische „Gesamtkunstwerke“ kennt, erwartet hier eigentlich raffiniertere Lichtführung. Die acht Tänzer/innen der Compagnie Liquid Loft sind in jedem Moment präsent. Sie durchwandern in den 22 Themenbereichen eigenwillige Rituale, setzen Akte der Verweigerung, kosten die „Poesie der Distanz“ aus – bis sie sich aufzulösen scheinen und verschwinden. „In einer Welt der Schlagschatten.“ Viel Applaus für die Liquid-Loft-Damen Cumming, Nowak, Timbrell, Meves und die -Herren Palmio, Dong Uk Kim, Murillo und Luke Baio.
tanzschrift.at, 7.10.2020
Blue Moon you saw…“ auf der großen Bühne im Odeon / Ditta Rudle
Einladung in eine fremde Welt, Ankommen in einer vertrauten Welt, der Welt von Liquid Loft. Scheinbar vertraut? Chris Haring und seine Company feiern Geburtstag. Vor 15 Jahren hat Chris Haring mit dem Musiker Andreas Berger, der Tänzerin Stephanie Cumming und dem Dramaturgen Thomas Jelinek Liquid Loft gegründet. Sie sind alle auch heute noch auf der Besetzungsliste jeder Produktion zu finden. An die 20 sind es geworden, und nun das Geburtsgeschenk an sich selbst und das Publikum, vor dem Lok down begonnen und nun endlich zur Aufführung gelangt. Die Premiere hat am 6. Oktober im bis auf den letzten möglichen Platz gefüllten Odeon stattgefunden.
„Blue Moon you saw me standing alone / without a dream in my heart / without a love of my one“, das sind die ersten Zeilen eins Songs aus dem Jahr 1934, von Liquid Loft in der Interpretation von Elvis Presley eingesetzt. Traurig und romantisch zugleich. Auch ein Film hat Chris Haring für sein neuestes Tanzstück inspiriert: „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais, aus dem Jahr 1961. Im Licht der Bühne im Odeon wird die Erinnerung daran belebt: Leere Räume, leere Blicke, die Menschen wie die Steinfiguren vor dem Hotel, in dem sich Menschen ohne Erinnerung, ohne Gefühle treffen und aneinander vorbeireden, mit den immer gleichen Sätzen.
So kalt wie dieser Film ist „Blue Moon you saw …“ allerdings nicht, auch nicht so tödlich langweilig. Im Gegenteil, die Performance, „Choreocinema“ nennt der Filmhistoriker und -kritiker Stefan Grissemann die Ergebnisse des Prozesses, in dem bei Liquid Loft eine Aufführung entsteht, weckt Emotionen. In früheren Stücken ist auch oft die Kamera dabei, zeigt die Bilder an der Wand und die Vor-Bilder auf der Bühne. Diesmal nicht. Keine Kamera, dennoch eine irreale Welt, eine Traumwelt. „Blue Moon“ ist die Fortsetzung von „Stand-Alones (polyphony)“, 2019 im Leopold Museum gezeigt. Tänzer und Tänzerinnen werden zu belebten Skulpturen, „Stand-Alones“ nennt sie Chris Haring, die sich isoliert in einem eigenen Raum bewegen, die Bilder an der Wand gehören zur Ausstellung, die selbstvergessen tanzenden acht Darsteller*innen werden auch zum Museumseigentum. 2020 sind sie wieder alle da, gemeinsam, doch genauso allein wie zuvor. Es gibt keinen Kontakt, keine Berührung, manchmal versuchen sich zwei, mit den Händen zu erreichen, andere mit den Füßen, aus dem Pas de deux wird nichts, sie erreichen einander nicht. Da nützen werbende Blicke aus lüstern blinkenden Augen, das Promenieren und Stolzieren der Damen vor den glotzenden Männern nichts, sie bleiben alle Stand-Alones.
„I‘m so lonesome I could cry“ singt Hank Williams (1949), der Mond ist bei ihm nicht blau, sondern verweint: „I’ve never seen a night so long / When time goes crawling by / The moon just went behind the clouds / to hide his face and cry.” Joseph Eichendorff hätte die wohlige Einsamkeit und Melancholie nicht schöner ausdrücken können. Doch Liquid Loft erlaubt nicht, dass ich es mir in diesem Wohlbefinden bequem mache. Ein Höllenlärm bricht los, die Figuren reden, schreien durcheinander, das Licht versteckt sich (hinter den Wolken?), die Figuren erstarren, werden zu gemeißelten Statuen, lehnen an den Säulen, liegen gekrümmt auf dem Boden, oder strecken alle Viere von sich. Ich sehe Bilder aus den Museen, aus der griechischen Mythologie, sehe Verzweiflung und Sehnsucht, Verlockung, sehe zarte Weiblichkeit und harte Männlichkeit, sehe Versuche, sich den anderen Figuren zu näheren, mit dem einen oder der anderen zu kommunizieren, doch wie eine Aura aus Eis oder aus Nichts ist jede / jeder abgeschirmt, innen genauso leer, wie die wiederholten Gesten und gesprochenen Worte. Die Figuren sprechen nicht selbst, sie sind stumm, bewegen nur die Lippen, der Speaker ist immer dabei. Nicht nur die Bewegungen jeder / jedes Einzelnen sind faszinierend, umwerfend, auch einfach schön, und auch wenn die Tänzerinnen und Tänzer des Liquid-Loft-Kollektivs auf der Bühne nichts Menschliches zeigen, eher fremden Wesen gleichen, ganz mit sich selbst beschäftigt, bestens eingerichtet in ihrer lonesomeness, berühren sie mich tief. Es sind doch nicht nur Körper auf der Bühne, die hohlen Figuren sind zugleich auch Menschen, Frauen und Männer, die tanzen und sich ausdrücken.
“Blue Moon” lebt von den Gegensätzen, traurig-schöne Lieder, Vogelpfeifen und Höllengeräusche, helles Licht und tiefe Finsternis, zärtliche Gesten und geballte Fäuste, fließende Bewegungen, Stillstand und heftige Gesten, schnelle Schritte, angetrieben von der Musik; Chaos und Ordnung, allein und gemeinsam. Dieser Wechsel der Stimmung, des Lichts und des Tempos zeigt die Flüchtigkeit, nicht nur des Tanzes, es liegt in allem, nichts bleibt, wie es ist, alles vergeht, zerfällt, wir alle fallen.
Auch die schöne Melancholie, die erwärmende Traurigkeit bleiben nicht, Katharina Meves, nein die Knef, sagt ein Gedicht auf, die Meves bewegt nur die Lippen, sie kann das, alle von Liquid Loft können es, Lippensynchronizität, nicht jede(r) kann das. Das Licht tanzt mit, die Figuren werden Schatten an die Wand, sind im Gegenlicht fast nicht auszunehmen und im schnellen Wechsel Schattenrisse ihrer selbst. Sie tanzen allein und alle neben einander, synchron, als wären sie ein Körper, dessen Gliedmaßen nichts voneinander wissen. Der Raum im Odeon wird zur Kirche (auch in Kirchen ist Liquid Loft schon aufgetreten und auf Sanddünen in den Niederlanden), die Figuren bewegen sich (oder auch nicht) im Hauptschiff und auch in den Seitenschiffen.
Choreocinema. Am Ende wird der Film dunkel, die Figuren verschwinden, lösen sich allmählich auf. Ich möchte noch 30 Sekunden geschenkt, doch einer / eine will zeigen, dass er / sie kapiert hat: Ende. Stimmungszerstörer*innen. Liquid ist ein so exzellentes Team, Tänzerinnen, Tänzer, Lichtraum, Klangraum, Raumraum, Choreografieraum, Kostümraum – ein Gesamtkunstwerk. Meisterhaft. Bewegend und beeindruckend, unvergesslich. Distanz und Vakuum: Eine Verbeugung vor COVID-19? Keineswegs! Idee und Konzept waren schon vor dem Virus in der Welt. Chris Haring hat eine einprägsame Antwort gefunden: „Das Virus hat uns eingeholt.“
profil, 4.10.2020
Einsamkeitsvirtuosen / Karin Cerny
15 Jahre Liquid Loft: Der österreichische Choreograf Chris Haring zeigt im Odeon ein mit acht Einzelkämpfern besetztes Gruppenstück.
Da quietscht eine Hüfte, dort knackt ein Knie. Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer verbiegen sich, vor und zurück, als hätte ein launisches Kind mit der Fernbedienung gespielt, sie in eine absurde Bewegungsschleife geschickt. Der aus dem Burgenland stammende Choreograf Chris Haring probt gerade sein jüngstes Stück „Blue Moon You Saw „. Auf relativ engem (Proben-)Raum schnurrt da schon recht souverän eine Inszenierung ab, die wahrscheinlich erst in den Weiten des Odeons (6.-10.10.) ihre wahre Kraft wird zeigen können.
Haring ist Isolations-Spezialist, das Alleinsein hat er in vielen seiner Arbeiten zelebriert. Seine „Stand-Alones (polyphony)“, wie jene Produktion hieß, die im Vorjahr im Leopold Museum zu sehen war, sind Einsamkeitsvirtuosen: Jedes Individuum war da eine Welt für sich, füllte mit seinem tragbaren Lautsprecher, über die Töne und Texte eingespielt wurden, zu denen die Akteure oft auch ihre Lippen bewegten, autonom einen ganzen Raum. Sind sie einsam oder nur allein? So klar ist die Frage bei Haring nicht zu beantworten: „Man kann sich ohnehin nur im Tanz treffen, dort, wo die Logik aufhört“, sagt er nach der Probe.
Im Stück hört man Hildegard Knef singen: „Schenk mir die drohenden Farben des Nordens“. Eine schöne Verweigerung des Mainstreams: Der überlaufene Süden kann ihr gestohlen bleiben. Auch Hank Williams klingt erstaunlich entspannt: „I’m so lonesome I could cry“. Haring fasziniert genau diese Unschärfe: „Es ist ein extrem beschwingter Song über das Alleinsein, der Sänger scheint sich wohl zu fühlen“, sagt der Choreograf. Traumverloren, wie in einem Zwischenreich, agieren auch seine Figuren, hängen irgendwie fest zwischen Zeit und Raum. Alain Resnais‘ Nouvelle-Vague-Klassiker „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961), ein opulenter Essay über Erinnerung, Wahrheit und Kunst, weht als Referenzraum herein. „Die Statuen wirken in dem Film mitunter lebhafter als die Menschen“, erklärt Haring: „So gibt sich eine erstarrte Gesellschaft zu erkennen.“
Covid-19 hat Harings Arbeit inhaltlich nicht wesentlich verändert, Lockdown-Stücke hat er schon vorher kreiert. Ungünstig ist das Virus trotzdem gekommen. Harings Truppe Liquid Loft feiert heuer ihr 15-jähriges Jubiläum, eigentlich hätte es beim ImPuls-Tanz schon im Sommer einen Schwerpunkt samt Buchpräsentation geben sollen. Dies wurde nun auf Herbst verschoben. Am 10. Oktober wird das Buch „Shiny Shiny“ im Odeon vorgestellt, Dirk Stermann moderiert. Zudem wird es am selben Abend einen Platten-Release inklusive Konzert von Andreas Berger geben, der Liquid Loft seit je mit seinen hypnotischen Sounds versorgt. Bleibt noch die Frage, wie sich Haring nach 15 Jahren im Tanzbereich sieht: „Jedes Stück ist ein neues Leben. Wir sind nervös wie am Anfang“, sagt er. Und: „Eigentlich fühlen wir uns wie junge Hüpfer.“