lost in freaky evolution_L.I.F.E

Das Bühnenstück lost in freaky evolution_ ist nach living in funny eternity_ der zweite Teil des fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus.

Happy now?

Alfredo gilt als unbeschwerter Typ, das Glitzern in seinen Augen ist unübersehbar, sein Wesen im Dreisprung des Begriffs happy-go-lucky bestens beschrieben. Nur: Wo fände man den glücklichen Alfredo? Wer ist das eigentlich? Und was tut seine Nonchalance zur Sache? Dies liegt, wie sehr vieles andere an diesem Abend, naturgemäß im Auge der Betrachterin und im Ermessen des Performance-Exegeten. Denn das Mysterium ist bei Liquid Loft ein Grundprinzip und die narrative Abstraktion jene Verhandlungsbasis, von der aus kein Weg zurück ins einspurige Erzählen führt.

So liegt nun eine weitere Gebrauchsanweisung zum Leben in der unmittelbaren Gegenwart vor: Das Bühnenstück lost in freaky evolution_ ist nach living in funny eternity_ der zweite Teil des fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus, den Liquid Loft gegenwärtig erarbeitet. Von der Groteske der unermesslichen Zeit geht es nun also weiter zur herzensbildenden Irrfahrt: Eine Odyssee findet statt, in entrücktem Tempo, mit kuriosem Witz. Das Leben ist aber, bei allem Frohsinn, auch eine Zumutung und ein Hirngespinst. Man weiß das, und man nimmt es hin, was soll’s: C’est la vie! Und: La vida es sueño! Träumen wir das alles nur? Die rhetorische Frage Life, what is it but a dream?, stellte schon Lewis Carroll, Bewohner seines eigenen Psycho-Wunderlandes, in einem Gedicht aus dem vorvergangenen Jahrhundert seinem imaginären Publikum.

lost in freaky evolution_ vollzieht sich in assoziativer Nähe zu einer Science-Fiction, die ihre Spezialeffekte eher atmosphärisch als technologisch versteht, die ihre visuelle Komplexität mit simpelstem Instrumentarium herstellt – und so ganz transparent macht, ihren Zauber gleichsam offenlegt, was diesen jedoch nur erhöht. Das Set-Up ist minimalistisch: ein paar flexible Spiegel, zwei Live-Kameras, traumverlorene Musik, fünf mobile Menschenkörper und eine Reihe voraufgezeichneter Dialogimprovisationen. Glamour povera!

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Der zugespielten Vielstimmigkeit entspricht das fünfköpfige Kollektiv, das sich durch den offenen Bühnenraum bewegt und dort – als befände es sich auf langjähriger Mission im All – rätselhafte Aufträge erledigt, Routinen abarbeitet oder sich bloß ein wenig verhaltensauffällig die Zeit vertreibt. An Bord des Starship Existenz findet allerdings Verblüffendes statt: ein stark verlangsamter, genderfluider Pas de deux etwa; ein Quiz, in dem die sich selbst Befragende gleich auch alle Antworten gibt; manipulierte Gesangseinlagen, zeitlich gedrosselt oder cartoonhaft aufgedreht.

Die never ending magical mystery tour, auf der sich Liquid Loft seit bald zwei Jahrzehnten befindet, führt in ihrem jüngsten Update durch verspiegelte Tunnel und Mini-Korridore, durch kubistisch verschachtelte Bildwelten und flimmerndes Videolicht – waiting to take you away! Als eine performative, sich unablässig wandelnde Rauminstallation, in der Skulpturales, Architektonisches und Malerisches mitgedacht werden, ist diese Show konzipiert.

Die Individuen, die dieser Versuchsanordnung ausgesetzt sind, sind ganz bei sich. Unmittelbarkeit ist garantiert: keine Verstellungen, keine Identitätstransfers, keine elaborierten Kostüm- und Maskenspiele. Die Blicke der Kameras dringen in die Innenwelten vor, die Projektionen enthüllen, was in den Wurmlöchern und Refugien der gemeinsam Vereinsamten gerade geschieht – und komplizieren so das Gefüge des Außenraums, das Gesamtbild erheblich. In der live generierten Videokunst schwingt nebenbei auch eine Art Mediengeschichte mit, die vom käsigen Seventies-Spiegelmultiplikationseffekt bis zum Second-Life-Illusionismus des Metaverse führt. Der Schnellvor- und -rücklauf quer durch die Zeiten ist eine Konstante dieser Inszenierung, die gewissermaßen retrofuturistische Zuspitzung der Situationen, Musiken und Assoziationen Teil ihres Programms.

Dabei wird aber auch psycho-philosophische Forschungsarbeit verrichtet, als verfüge man über einen Direktzugang ins Unbewusste. Bestimmte Motive kehren wieder, als Déjà-vu der Träumenden, allerdings niemals ganz ident, stets sanft variiert. Die im Tanz sich ihres Daseins vergewissernden Menschenkörper halten in lost in freaky evolution_ lustvoll gegen die Negativräume einer lückenlos vernetzten Welt, gegen die Ausweitung der Datenzone. Aber existieren wir „wirklich“, oder erscheinen wir nur als Fantasmen im unsteten Blick jener Kameras, die wir selfie-ish auf uns (und einander) richten? Eine dunkle Erzählung, gewonnen aus kaleidoskopischen Bildern und intensiver Farbproduktion, ist unter der Schicht der vieldeutigen Gesten, der Sprach- und Klangsplitter verborgen. Nur wer die Geheimgänge des Lebens zu erforschen wagt, kann darauf hoffen, die jeweils nächste Station zu erreichen, um die eigene Entwicklung voranzutreiben. The evolution will not be televised!

In diesem Lebens-Traum werden Beklemmung und Euphorie souverän in Balance gehalten, in Tonfällen, die teils warnend, teils beschwörend zu klingen scheinen. Mit letzter Sicherheit ist dies nicht zu entscheiden, die Spiel- und Leidensräume sind endlos. Denn wer hätte die Chuzpe, den digitalen Schein vom physischen Sein noch säuberlich zu trennen? Am Ende bleibt, um das Gefürchtete zu bannen und den Albdruck zu verringern, nur die Autosuggestion: „This is not gonna fucking happen.“

Stefan Grissemann

01.12.2023 - 02.12.2023

Tanzquartier Wien, AT

30.11.2023 (premiere)

Tanzquartier Wien, AT

dates

Tanz, Choreografie: Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Komposition und Soundkonzept: Andreas Berger
Licht Design, Szenografie: Thomas Jelinek
Choreografische Assistenz: Breanna O`Mara
Theorie, Text: Stefan Grissemann, Sophie Reyer
Stage Management: Roman Harrer
Company Management/ Produktion: Cornelia Lehner
Kostüme: Stefan Röhrle
Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent, Lara van Lookeren

Eine Koproduktion von CCAM / Scène Nationale de Vandoeuvre und Liquid Loft in Kooperation mit Tqw und ImPulsTanz Vienna International Dance FestivalLiquid Loft wird gefördert von Stadt Wien Kultur (MA7) und Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS)

credits

DerStandard, 1. Dezember 2023
Helmut Ploebst

Wiener Tanzquartier
Liquid Loft entführen in die Spiegelwelt der Digitalität

Die Wiener Company unter ihrem Choreografen Chris Haring thematisiert die Tücken des globalen Posthumanismus

Kaum zu glauben: Was noch vor zwei Jahrzehnten als ultimativ progressives Computernetz-Mirakel erschien, zeigt heute immer deutlicher seine grottenkonservative Fratze. In unserer desillusionierenden Gegenwart platzt die Scheinwelt des Hurra-Digitalismus von gestern wie in Zeitlupe auf. Die renommierte Wiener Company Liquid Loft unter ihrem Choreografen Chris Haring beschäftigt sich bereits seit ihrer Gründung 2005 mit den Zugriffen des digitalen Monsters auf den menschlichen Körper. Wohin sich Liquid Lofts konsequent vorangetriebenes künstlerisches Projekt aktuell bewegt, macht die Uraufführung von Lost in freaky evolution, dem zweiten Teil einer im Sommer bei Impulstanz gestarteten Serie mit dem Titel „L.I.F.E.“, gerade im Tanzquartier Wien deutlich.

Bei Lost in freaky evolution führen fünf Figuren in ihrer magischen Spiegelwelt vor, wie geil sich unsere digitale Selbstkolonisierung anfühlt: als Rausch des Narzissmus, als Tanz des selbstverliebten Egos, als unablässiges Plappern und Auf- und Abtauchen im Schillern kalter Bildschirme. Mit ironischer Offenherzigkeit wird hier jenes Psychodrama ausgebreitet, das die körperfeindlichen Ideologien des Trans- und (technologischen) Posthumanismus als unendlichen Spaß abfeiern.

Toxische soziale Medien

Das globale Hineinfallen auf die Verlockungen der toxischen „sozialen“ Medien kommt bunt und paillettenglitzernd daher. Eine Unheimlichkeit, die grenzenlose Freiheit vorgaukelt. Liquid Loft spielt dieses Unheimliche verzerrt in Spiegeltrichtern vor, die erst einmal spektakulär aussehen, in ihren variantenreichen Wiederholungen aber zunehmend makaber anmuten. Lost in freaky evolution ist zwar ein – gezieltes – Recycling von Elementen aus früheren Arbeiten, doch in diesem neuen Stück sind die Dramaturgie, das Timing, der Einsatz von Live-Projektionen unvergleichlich meisterhaft umgesetzt.

Sicherer als je zuvor bewegen sich Hannah Timbrell, Anna Maria Nowak, Luke Baio, Dong Uk Kim und Dante Murillo in ihrer Halluzinationsblase. Darin schmeichelt und knistert Andreas Bergers Sound. Von diesem Zauber wird das Publikum sowohl eingelullt als auch für das Unfassbare sensibilisiert: dass wir allesamt Gefangene und Sklaven ausbeuterischer Technik-Freaks geworden sind, die mit ihrer trickreichen Übernahme unserer Evolution Milliarden machen.

Lost in freaky evolution perlt auf der Oberfläche dieses Triumphs und hinterlässt darauf ein paar dystopische Schlieren. Mehr macht keinen Sinn. Denn wer hat schon auf die zahllosen Warnungen vor dem Technikfetisch seit, sagen wir, Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey von 1968 gehört? Richtig, die Technik-Freaks. Ihnen ist es gelungen, die einschlägige Aufklärung in ein beinhart optimistisches Geschäftsmodell umzupolen. Angesichts dieses Liquid-Loft-Stücks dämmert uns das alles einmal mehr. Aber solcher Dämmer ist halt immer noch kein Durchblick.

 

TQW newsblog, 1. Dezember 2023
Thomas Edlinger

KONNEX TRENNUNG

Am Rechner, wieder einmal. Musik läuft. Nobody here heißt das geisterhafte Stück von Oneohtrix Point Never. Es lässt ein Sample aus dem alten Chris-de-Burgh-Schmachtfetzen Lady in Red in Dauerschleife laufen. Das Video dazu zeigt die Fahrt auf einer digital billig animierten Straße, die auf ein simuliertes Stadtzentrum zuläuft und sich alle paar Sekunden neu zentriert. Auf der Road to Nowhere, das wussten schon die Talking Heads, kommt man nie ans Ziel. Das Mikrogenre, dem solche Musik zugerechnet wird, nennt sich Vaporwave. Es ist ein Geschöpf des Internets – eine psychedelisch orientierte Musik, die popkulturelle Erinnerungsfetzen fetischistisch auflädt, mit extremen Zeitdehnungen arbeitet und damit auch bizarren Verfremdungsreizen den Boden bereitet: So werden etwa Songs von Radiohead oder Lady Gaga um 800 bis 1.600 Prozent verlangsamt und anschließend als Ambient-Readymades ins Netz gestellt.

Auch in Liquid Lofts neuer Bühnenkreation lost in freaky evolution_L.I.F.E., dem zweiten Teil des fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus, weiß das auf fünf Personen abgespeckte Ensemble nicht wirklich, wohin die Reise geht. Aus dem Gemurmel, das auf den weitgehend ungefilterten Aufzeichnungen von Probengesprächen und Internetfunden von Selbstdarsteller*innen basiert (und wie meist bei Liquid Loft von den Performer*innen auf der Bühne lippensynchronisiert wird), schält sich ein Satz heraus: „He went to places he has never been to before.“

Dort, wo man noch nie war, glitzern die Oberkörperoutfits im Retro-Glam-Stil. Das Licht leuchtet weiß, rot, blau und grün auf eine Bühne, die nach und nach bevölkert wird. Die beiden in stumpfem Winkel zueinander ausgerichteten Projektionswände werden mit Live-Bildern von zwei mobilen Minikameras gespeist, die ihr visuelles Material aus dem Spiel des Ensembles mit den davor in immer neue Stellungen gebrachten PVC-Spiegelfolien gewinnen. Mithilfe der technischen Transformation entstehen so visuell wandelbare Konstellationen jenseits naturalistischer Repräsentationen. Gleichzeitig bekunden reale Körper in Verrenkungen und anderen Nöten ihre „natürliche“ Grundlage, eine unter digitalen Bedingungen prekär gewordene Präsenz. Nur weil es Medien gibt, die zaubern können, gibt es diese eigentümliche Erfahrung von freigestellter und für den Blick des Publikums nachvollziehbarer Verfremdung. Die künstlerische Intelligenz der technisch simplen und von Liquid Loft in den jüngsten Stücken doch so raffiniert eingesetzten Kombination von Kamerabildern und Spiegelfolien schafft imaginäre Bilder, die sich vor dem Erfindungsreichtum künstlicher Intelligenz nicht verstecken muss.

In diesem Setting finden und verlieren sich Körper, die ins Nichts greifen, die Leere umarmen und einen Paartanz ohne Gegenüber andeuten. Die existenzielle Verlorenheit der Gesten, der Mangel an Responsivität, also an befriedigenden Antwortmöglichkeiten und gelingenden Weltbezügen, grundiert lost in freaky evolution_ – selbst wenn choreografisch immer wieder brüchige Beziehungen zwischen den einzelnen Performer*innen gestiftet werden. Ein Wirbel, ein Strudel, der manchmal eine erratische Sogkraft zu entwickeln scheint – ähnlich wie in Science-Fiction-Filmen, die den Blick auf die Finsternis und Schwerelosigkeit des Weltalls im Rücken der taumelnden Protagonist*innen lenken. Das Stück geht von der zunehmenden Präsenz eines Phänomens aus, das Roberto Simanowski die Alltagsdominanz der „Smombies“ (oder in der Langform „Smartphone-Zombies“) nennt. Diese Smombies sind wir selbst: Wesen, die nicht mehr zwischen Körper und Technologie, Bewusstsein und Netzwerk unterscheiden wollen, können oder müssen. Wir alle sind Influencer*innen oder Influencer-Beobachter*innen, die in einem endlosen Jetzt der Netzwerkteilhabe leben und die differenzierte Raumwahrnehmung verlieren, weil alles gleich weit weg erscheint – alles nur einen Link, einen Post, eine Google-Suche entfernt.

Liquid Loft gestaltet diesen Bedeutungsverlust analoger Raum- und Zeiterfahrungen als ambivalenten Zustand, in dem sich der „Inforg“, der informationelle Organismus, jenseits von Affirmation, aber auch jenseits von Kritik an den Verhältnissen zu bewegen scheint. Die Geschwätzigkeit der „Däumlinge“ des Internets (Michel Serres) bekommt genauso ihren Auftritt wie über den Kopf gestülpte Spiegelfolien, die dem Daten-Ich Flügel verleihen könnten, oder Projektionen einsamer Köpfe, die von ihren Körpern getrennt erscheinen. In den sich stetig wandelnden, teils traumwandlerischen Szenen entstehen Räume, die illusionär und desillusionierend zugleich wirken, in denen die Banalität von Fragen wie „Are you recording?“ ebenso verhandelt wird wie die existenzielle Frage nach dem Status von Wirklichkeit und Gewissheit. In sich beinahe wiederholenden, nur leicht variierten Abläufen stecken Köpfe in zu Hundetrichtern geformten Spiegelfolien fest – und sehen zugleich wie durch ein Wurmloch in eine andere, nicht zu begreifende Dimension. Dort wartet zerstäubte, feingliedrige Musik, die sich manchmal zum Zerrbild von Unterhaltung verbiegt, dann wieder verdichtet und hochgepitcht wird zu enervierendem Hyperpop – oder auch abgebremst zu tiefgelegten Alien-Sounds.

Roberto Simanowski schrieb die Liner-Notes zu dieser Bühnenarbeit über die erzwungene und zugleich genossene Anpassung an die Realität des Virtuellen, ohne den Zusammenhang zu Stück und Musik zu kennen: „Man ist schon verschwunden, wenn man noch da ist. Smombies sind nicht Untote, die zurückkamen, sondern Abwesende, die ihren Körper zurückließen. Sie sind dem hiesigen Raum entzogen, weil sie sich einem anderen verbunden fühlen. Konnektivität der Trennung.“

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