
lost in freaky evolution_L.I.F.E
Das Bühnenstück lost in freaky evolution_ ist nach living in funny eternity_ der zweite Teil des fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus.
Premiere 30. Nov 2023
Shows: 1. Dez + 2. Dez. 2023
TQW Tanzquartier Wien
Happy now?
Alfredo gilt als unbeschwerter Typ, das Glitzern in seinen Augen ist unübersehbar, sein Wesen im Dreisprung des Begriffs happy-go-lucky bestens beschrieben. Nur: Wo fände man den glücklichen Alfredo? Wer ist das eigentlich? Und was tut seine Nonchalance zur Sache? Dies liegt, wie sehr vieles andere an diesem Abend, naturgemäß im Auge der Betrachterin und im Ermessen des Performance-Exegeten. Denn das Mysterium ist bei Liquid Loft ein Grundprinzip und die narrative Abstraktion jene Verhandlungsbasis, von der aus kein Weg zurück ins einspurige Erzählen führt.
So liegt nun eine weitere Gebrauchsanweisung zum Leben in der unmittelbaren Gegenwart vor: Das Bühnenstück lost in freaky evolution_ ist nach living in funny eternity_ der zweite Teil des fortlaufenden L.I.F.E.-Zyklus, den Liquid Loft gegenwärtig erarbeitet. Von der Groteske der unermesslichen Zeit geht es nun also weiter zur herzensbildenden Irrfahrt: Eine Odyssee findet statt, in entrücktem Tempo, mit kuriosem Witz. Das Leben ist aber, bei allem Frohsinn, auch eine Zumutung und ein Hirngespinst. Man weiß das, und man nimmt es hin, was soll’s: C’est la vie! Und: La vida es sueño! Träumen wir das alles nur? Die rhetorische Frage Life, what is it but a dream?, stellte schon Lewis Carroll, Bewohner seines eigenen Psycho-Wunderlandes, in einem Gedicht aus dem vorvergangenen Jahrhundert seinem imaginären Publikum.
lost in freaky evolution_ vollzieht sich in assoziativer Nähe zu einer Science-Fiction, die ihre Spezialeffekte eher atmosphärisch als technologisch versteht, die ihre visuelle Komplexität mit simpelstem Instrumentarium herstellt – und so ganz transparent macht, ihren Zauber gleichsam offenlegt, was diesen jedoch nur erhöht. Das Set-Up ist minimalistisch: ein paar flexible Spiegel, zwei Live-Kameras, traumverlorene Musik, fünf mobile Menschenkörper und eine Reihe voraufgezeichneter Dialogimprovisationen. Glamour povera!
Der zugespielten Vielstimmigkeit entspricht das fünfköpfige Kollektiv, das sich durch den offenen Bühnenraum bewegt und dort – als befände es sich auf langjähriger Mission im All – rätselhafte Aufträge erledigt, Routinen abarbeitet oder sich bloß ein wenig verhaltensauffällig die Zeit vertreibt. An Bord des Starship Existenz findet allerdings Verblüffendes statt: ein stark verlangsamter, genderfluider Pas de deux etwa; ein Quiz, in dem die sich selbst Befragende gleich auch alle Antworten gibt; manipulierte Gesangseinlagen, zeitlich gedrosselt oder cartoonhaft aufgedreht.
Die never ending magical mystery tour, auf der sich Liquid Loft seit bald zwei Jahrzehnten befindet, führt in ihrem jüngsten Update durch verspiegelte Tunnel und Mini-Korridore, durch kubistisch verschachtelte Bildwelten und flimmerndes Videolicht – waiting to take you away! Als eine performative, sich unablässig wandelnde Rauminstallation, in der Skulpturales, Architektonisches und Malerisches mitgedacht werden, ist diese Show konzipiert.
Die Individuen, die dieser Versuchsanordnung ausgesetzt sind, sind ganz bei sich. Unmittelbarkeit ist garantiert: keine Verstellungen, keine Identitätstransfers, keine elaborierten Kostüm- und Maskenspiele. Die Blicke der Kameras dringen in die Innenwelten vor, die Projektionen enthüllen, was in den Wurmlöchern und Refugien der gemeinsam Vereinsamten gerade geschieht – und komplizieren so das Gefüge des Außenraums, das Gesamtbild erheblich. In der live generierten Videokunst schwingt nebenbei auch eine Art Mediengeschichte mit, die vom käsigen Seventies-Spiegelmultiplikationseffekt bis zum Second-Life-Illusionismus des Metaverse führt. Der Schnellvor- und -rücklauf quer durch die Zeiten ist eine Konstante dieser Inszenierung, die gewissermaßen retrofuturistische Zuspitzung der Situationen, Musiken und Assoziationen Teil ihres Programms.
Dabei wird aber auch psycho-philosophische Forschungsarbeit verrichtet, als verfüge man über einen Direktzugang ins Unbewusste. Bestimmte Motive kehren wieder, als Déjà-vu der Träumenden, allerdings niemals ganz ident, stets sanft variiert. Die im Tanz sich ihres Daseins vergewissernden Menschenkörper halten in lost in freaky evolution_ lustvoll gegen die Negativräume einer lückenlos vernetzten Welt, gegen die Ausweitung der Datenzone. Aber existieren wir „wirklich“, oder erscheinen wir nur als Fantasmen im unsteten Blick jener Kameras, die wir selfie-ish auf uns (und einander) richten? Eine dunkle Erzählung, gewonnen aus kaleidoskopischen Bildern und intensiver Farbproduktion, ist unter der Schicht der vieldeutigen Gesten, der Sprach- und Klangsplitter verborgen. Nur wer die Geheimgänge des Lebens zu erforschen wagt, kann darauf hoffen, die jeweils nächste Station zu erreichen, um die eigene Entwicklung voranzutreiben. The evolution will not be televised!
In diesem Lebens-Traum werden Beklemmung und Euphorie souverän in Balance gehalten, in Tonfällen, die teils warnend, teils beschwörend zu klingen scheinen. Mit letzter Sicherheit ist dies nicht zu entscheiden, die Spiel- und Leidensräume sind endlos. Denn wer hätte die Chuzpe, den digitalen Schein vom physischen Sein noch säuberlich zu trennen? Am Ende bleibt, um das Gefürchtete zu bannen und den Albdruck zu verringern, nur die Autosuggestion: „This is not gonna fucking happen.“
Stefan Grissemann
Tanzquartier Wien, AT
Tanzquartier Wien, AT
dates
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Komposition und Soundkonzept: Andreas Berger
Licht Design, Szenografie: Thomas Jelinek
Choreografische Assistenz: Breanna O`Mara
Theorie, Text: Stefan Grissemann, Sophie Reyer
Stage Management: Roman Harrer
Company Management/ Produktion: Cornelia Lehner
Kostüme: Stefan Röhrle
Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent, Lara van Lookeren
Eine Koproduktion von CCAM / Scène Nationale de Vandoeuvre und Liquid Loft in Kooperation mit Tqw und ImPulsTanz Vienna International Dance FestivalLiquid Loft wird gefördert von Stadt Wien Kultur (MA7) und Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS)