modern chimeras
Die Chimäre, mythologisch ins Monströse, Polyanimalische gerückt, ist auch ein Trugbild, eine Ausgeburt der Fantasie, etwas Flüchtiges, in dauerhafter Transformation Begriffenes; sie ist nicht fassbar, nicht zu kategorisieren.
H. G. Wells theoretisierte die „Grenzen der individuellen Plastizität“ in seinem gleichnamigen Essay bereits 1895 – die darin entwickelten Ideen führten nicht zuletzt auch zu dem SciFi-Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ –, und er ging von der Frage aus, wie weit man das Aussehen lebender Tiere durch chirurgische oder chemische Intervention in Richtung Menschenkörper modifizieren könnte. In Modern Chimeras wird dieses Motiv poetisch weitergesponnen, werden die antiken Schimären mit Tierfelldrucken und „animalischer“ Körpersprache in die Gegenwart assoziiert.
Modern Chimeras ist eine Utopie, die von der Gleichberechtigung der Wesen, der Vermeidung von Hierarchien kündet, vom Ende jener Krücken, die wir Kohärenz und Ordnung nennen.
fotos: michael loizenbauer
Faserland
Stefan Grissemann zu Modern Chimeras
Das Fleisch ist willig, die Gewebe sind wach:
In Modern Chimeras wird ein ritueller Pakt aus Körper, Geist und Stoff geschlossen.
Die Chimäre, mythologisch ins Monströse, Polyanimalische gerückt, ist (als „Schimäre“) auch ein Trugbild, eine Ausgeburt der Fantasie, etwas Flüchtiges, in dauerhafter Transformation Begriffenes; sie ist nicht fassbar, nicht zu kategorisieren. Lost könnten daher einige jener Figuren erscheinen, die in Modern Chimeras den Bühnenraum mit ihren vielfältigen Eigenheiten bespielen; aber anders als der sanft dramatische deutsche Begriff des „Verlorenseins“ meint das englische Wort eben auch das Versonnene, Entrückte, Selbstvergessene mit, jenen Zustand der anhaltenden Konfusion, der auch als eine Form der Freiheit, der existenziellen Ungebundenheit interpretiert werden kann. Wer in der Lage ist, all die sozialen Zuschreibungen und Identitätsgefängnisse hinter sich zu lassen, hat gute Chancen auf ein halbwegs autonomes Leben. Body positivity ist ohne seelisches Gleichgewicht nicht denkbar. Die in sich Versunkenen fallen weich, sind aufgehoben im Anspruch auf Alleinstellung und in den alten Ritualen, deren Ursprünge nicht mehr zu rekonstruieren sind – jedes Geschöpf seine eigene Spezies.
Die Handlungsabläufe sind fixiert, die Fest- und Feierlichkeiten folgen den einst festgelegten Gesten, Bildern, Klängen und Wortfetzen. Eine Zeremonie findet statt, deren innere Notwendigkeit und strenge Eigengesetzlichkeit unbezweifelbar sind. Die Götter erheben ihre Tiermenschenhäupter, um Andacht zu üben und sich ehren zu lassen. Die Angebeteten beten sich selbst an, in Demut und Selbstüberhöhung, aufgelöst in der doppelten Bedeutung ihrer Präsenz, in der Zwiespältigkeit ihres katzengoldenen göttlichen Seins. Die Schimäre hält sich die Optionen offen, trifft keine Entscheidungen, kann alles sein und leben. Flexible Individuen konstituieren sich, immer anders, immer neu – und stets in Bewegung: Die Karawanen ziehen, die Prozessionen erinnern von fern an das, was man ehedem Glauben nannte. Die Schatten sind ephemere Höhlenmalerei, ungreifbar, während die Erhabenen und die Entrechteten, die Königinnen und die Käferwesen vorüberziehen.
H.G. Wells theoretisierte die „Grenzen der individuellen Plastizität“ in seinem gleichnamigen Essay bereits 1895 – die darin entwickelten Ideen führten nicht zuletzt auch zu dem SciFi-Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ (1896) –, und er ging von der Frage aus, wie weit man das Aussehen lebender Tiere durch chirurgische oder chemische Intervention in Richtung Menschenkörper modifizieren könnte. In Modern Chimeras wird dieses Motiv poetisch weitergesponnen, werden die antiken Schimären mit Tierfelldrucken und „animalischer“ Körpersprache in die Gegenwart assoziiert. Wie funktioniert Kommunikation unter Hybrid-Existenzen?
Diese Inszenierung ist auch eine Utopie, die von der Gleichberechtigung der Wesen, der Vermeidung von Hierarchien kündet, vom Ende jener Krücken, die da etwa Kohärenz und Ordnung heißen. Die Vielheiten erscheinen kommunikativ und vernetzt, aber eben physisch sehr präsent, nicht körperlos und remote: ein post-digitales Modell reinster Stofflichkeit, ein choreografiertes Rhizom, dessen Wurzeln in unüberschaubare Flecht- und Netzwerke verästeln, die immense Verbindungsfähigkeit und Flexibilität aufweisen. Der kreatürliche Kern der Figuren ist durch kreative Improvisations- und Anpassungsleistungen weitgehend unzerstörbar, immunisiert gegen Zumutungen von außen.
Modern Chimeras ist alles andere als eine Kostümparade, auch keine Auseinandersetzung mit Mode, es sei denn, man verstehe auch diese in einem sehr grundsätzlichen Sinn als existenziell; Stoff nicht als Verkleidung, Verhüllung oder „zweite Haut“, sondern als Erweiterung des Fleisches, als mit den Körperoberflächen kurzfristig – und auf irritierende Weise fast organisch – verschmelzendes Objekt. Denn die Haut ist, genau betrachtet, kein bloßes Außenphänomen. Nicht nur das menschliche Herz verfügt über eine Innenhaut, auch in den Schattenzonen der Körperöffnungen setzen sich die Ausläufer der Epidermis als Schleimhäute ins Leibesinnere fort. Das Fleischliche wird dadurch noch betont: Man dringt ein, schwillt auf, gibt sich preis, weitet (und weidet) aus. Die Schrift der Körper im Raum ist als Ausdruck des Wesens der dargestellten Figuren zu lesen: Man könnte diese Arbeit auch ein choreographologisches Unterfangen nennen.
Das „Fabrizierte“ der textilen Erzeugnisse korrespondiert mit all dem Hergestellten, Weiterentwickelten, Optimierten in den Menschenkörpern, die von einer hochtechnisierten Medizin längst serienmäßig ausgebaut werden. In gewobenem Material entsteht ein Netz, eine „Einheit“, die Schutz- und Grenzfunktion hat, auch ein Gehäuse sein kann, in dem man sich verpuppen und verwandeln kann wie in einem Kokon. Das Hirngespinst, das die Schimäre darstellt, ist schon phonetisch als das quasi-textile Garn der Träumenden zu erkennen. Modern Chimeras zelebriert in diesem weltentrückten Sinn nicht die suspense des dramaturgisch wohlgesetzten Narrativs, sondern die ganz spezielle „Spannung“, die Körper, Geist und Stoffe aufweisen.
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
Maison de la Poste, Bruxelles, BE (excerpt)
dates
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Soundkonzept, Komposition: Andreas Berger
Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek
Kostüme: Stefan Röhrle
Stage Management: Roman Harrer
Theorie: Stefan Grissemann
Distribution: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent, Lara van Lookeren
Produktion: Marlies Pucher
Dank an Jakob Lena Knebl und Hans Scheirl für die Requisiten-Spende.
Eine Produktion von Liquid Loft in Kooperation mit ImPulsTanz Vienna International Dance Festival. Liquid Loft wird gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) und vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS)
credits
Wiener Zeitung, 01.08.2022
Der Reigen der Mischwesen / Verena Franke
Chris Haring zeigt in der Uraufführung „Modern Chimeras“ auch Altbekanntes.
Ein großer Knäuel an Kleidungsstücken und Stoffen unterschiedlichster Texturen liegt in der Mitte der Bühne. Sieben Performer gehen einzeln in flottem Tempo auf den Berg zu, nehmen sich, was sie scheinbar benötigen, und bringen es auf die Seite. Und schon ist man in Chris Harings Universum der Farben und Stoffe eingetaucht, die im Lauf des Abends das eingespielte Liquid-Loft-Team (Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell) zu sich windenden Mischwesen, auch Chimären genannt, verwandelt. Und so nennt der heimische Choreograf Chris Haring sein jüngstes Werk, das am Wochenende im Rahmen des Impulstanz-Festivals im Wiener Odeon uraufgeführt wurde, „Modern Chimeras“.
Ein komplett neues Konzept seiner Arbeitsweise darf man sich nicht erwarten. Vielmehr entwickelt Haring dieses weiter und passt es dem aktuellen Thema an. Dieses Mal verzichtet er aber auf seine typischen Livevideo-Projektionen, und auch die Lippensynchronisationsspiele setzt er sehr gemäßigt ein. Dafür gibt es Tanzsequenzen, sodass nicht nur die Bühnenästhetik dominiert. Die Kostüme sind aus vorigen Produktionen wiederzuerkennen: ein Beitrag zum Klimaschutz.
Haring kostet in dieser Produktion die verzerrten Körperbilder und die daraus entstehenden neuen Wesen aus, die die Fähigkeit besitzen zu täuschen, zu tarnen und optische Verwirrungen zu stiften – in perfekt einstudierten Abläufen. Die mythologischen Chimären werden nun in Tier-Print-Kostümmotiven und sich krümmenden, schlängelnden und windenden Bewegungen in die Gegenwart geholt. Manches davon scheint bereits in einer früheren Performance gesehen, manches ist aber erfreulich neu.
tanz.at, 03.08.2022
Liquid Loft / Chris Haring mit „Modern Chimeras“ / Rando Hannemann
Im 17. Jahr ihres Bestehens zeigte die Kompanie Liquid Loft des Wiener Choreografen Chris Haring die Uraufführung ihrer neuesten Kreation „Modern Chimeras“ bei ImPulsTanz. Liquid Loft bleiben sich treu. Ihre künstlerischen Stilmittel, die ganz eigene Bild-Ästhetik und Sprach- und Stimmspiele sind unverkennbar. Auf den Einsatz von Life-Kameras verzichtete Chris Haring jedoch. Und das ist nicht das einzig Neue.
Die seit vielen Jahren in variierenden Settings, mal als Gruppenstück auf der Bühne, als Film, Online-Format oder in getrennten, durchschlenderbaren Museumsräumen gehörig ausgeweidete Thematik der deformierten, vereinsamten, entfremdet-posthumanen Kreatur bearbeitete Chris Haring in einer Vielzahl von Stücken, selbst in seinem „Schwanensee“ mit TANZLIN.Z am Landestheater Linz (tanz.at berichtete) in diesem Frühjahr. Die TänzerInnen der Kompanie entwickelten gemeinsam mit ihrem Choreografen und dem Sounddesigner Andreas Berger, wie Cumming Gründungsmitglied, Bewegungs- und performatives Material, das mit viel Witz und durch live projizierte Nah- und Innen-Aufnahmen der Körper die kühle Ästhetik der Choreografien durchbrach.
„Modern Chimeras“ nun, durch Covid-Fälle in der Kompanie war die Premiere gefährdet, musste bis zum letzten Moment angepasst werden an die aktuelle Besetzungs-Situation. Im Ergebnis für Außensitzende nicht wahrnehmbar, aber zusätzlicher Vorpremieren-Stress für die Kompanie.
Die sechs TänzerInnen (Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak) tragen den Haufen Stoff in der Mitte der weißen, säulengerahmten Bühne ab, ziehen sich um. Es bleiben zwei riesige Kissen, silbern und golden, und etwas wie ein schwarzer Torso mit einem langen Rüssel und gold-glitzerndem Appendix. Lauter, drängender Metall-Sound. Von der ersten Sekunde an. Die eingespielte Stimme lippensynchron mitgesprochen, Posen wie auf alt-ägyptischen Malereien und in griechischen Skulpturen gesehen, synchrone Bewegung auf die Pose zu, unterbrochen von kurzen Pausen. Ständiger Kostüm-Wechsel. Raubkatzen schleichen im Staccato-Move über die Bühne.
Die Chimäre, das von der griechischen Mythologie geborene Mischwesen, ist ebenso auch Trugbild und Einbildung. Sie hat also physischen und geistigen Charakter, ist Wirklichkeit und falsche Vorstellung von dieser. Passiv erlegen oder aktiv erzeugt, (Be-) Trug und erSCHEINung schaffen heute neue, mächtige Mythen, die als solche zu entlarven vielfach nicht gelingt, weil die Verhaftung in der Innen-Ansicht Fremdbild nicht erlaubt. Und die Gewalt, mit der die inneren Trugbilder uns gefangenhalten, wird nur in der Angst vor ihrer Zerstörung spürbar. Zudem halten Krawatten, Soutanen, Turban, Kaftan oder Waffen tragende Doppel-Moralisten heute unsere Welt in atemlosem Lügen-Trab. Aktueller also, und fundamentaler, kann ein Sujet kaum sein.
Hier setzt Haring an mit seinen modernen Chimären. Deren Varianten-Reichtum choreografiert er im neoklassizistischen Ambiente des Odeon in berückenden Bildern. Der Lichtdesigner und Szenograf Thomas Jelinek schafft dafür Räume und Atmosphären, die kongenial die Dynamik der Performance unterstützen. So wie der Sound von Andreas Berger. Seine Klang-Welten und Sprach-Stimm-Installationen sind maßgeblich für das ästhetische Gesamtbild der Arbeit.
Die Choreografie orientiert sich an Bewährtem, Altbekanntem, gibt neuen Bildern jedoch neuen Raum. Die Kostüme von Stefan Röhrle, er entwickelte neben vielfältiger Individual-Kleidung eine Reihe von äußerst dehnbaren Stoffen, die das Umschließen von bis zu sechs PerformerInnen erlauben. Deren leichte Transparenz ist auch Hinweis auf die Möglichkeit des Erkennens und Entlarvens all dieses Scheins.
Das häufige Wechseln der (Ver-) Kleidungen, die Posen und Skulpturen-Gruppen, in die Hüllen und Häute der Anderen gekrochen, gezwängt oder von diesen eingefangen und -gewickelt, der amöbenhafte Wandel der Formen, die sich hier ausstülpen und dort einengen, viele, im großen Raum verteilte parallele Einzel- und Gruppen-, solistische und synchronisierte Aktionen, tänzerische und performative Sequenzen erzeugen ein hochkomplexes, dichtes Stück voller eigenwillig-schöner Bilder. Tierisch-menschliche Figuren, animalisch-humaner Habitus und manchmal einfach nur der Typ von nebenan, der ganz kurz einmal erkennbar zu sein scheint, tanzen zwischen Abstraktion und Fiktion. Den Zuschauenden lockt Haring mit Intimität und hält ihn weiter auf Distanz, auch weil Video-Leinwand gänzlich und der in seinen Stücken oft so köstliche Humor weitgehend fehlen.
Mischwesen und Trugbilder zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten, in allen Lebensformen und vielen Dimensionen zeigt uns Liquid Loft, großartig geschlossen agierend, in „Modern Chimeras“. Die Wandlung als Daseinsform, als Wesenskern des Lebens. Die universelle gegenseitige Durchdringung (wir alle sind psycho-genetische Chimären) lässt Neues entstehen, ermöglicht Evolution.
Das Stück feiert das widerstandslose Sich-Hingeben an die ständige Veränderung. Ein Duett zweier Stretch-verhüllter Tänzer – die Gesichter drücken sich aus dem Textil und, während sie sich winden, lamentieren ihre Stimmen lautmalerisch rau – überwindet die Distanz-Barriere und schleicht sich ein in das Gefühl. Es gibt keine Grenzen. Wir sind Alles, Eines.
Der Standard, 01.08.2022
Helmut Ploebst
Die alten Griechen dachten sich aufregende Ungeheuer aus. Zum Beispiel die Chimaira, zu Deutsch „Geiß“, als Mischwesen aus Löwe, Schlange und Ziege. Heute werden mythische Mischwesen, in die auch menschliche Körper involviert sein können – die Sphinx, der Kentaur –, allgemein als Chimären bezeichnet. Im übertragenen Sinn ist eine Chimäre auch ein Trugbild. An Letzteren gibt’s bekanntlich gerade keinen Mangel.
Deswegen ist das neue Stück Modern Chimeras der Wiener Kompanie Liquid Loft unter ihrem Choreografen Chris Haring ein Treffer. In dieser Uraufführung bei Impulstanz feiert das Trugbild als Mischung aus Menschen, Masken, Stoffen und Einbildung sinnlich angehauchte Urständ. In Sachen postmoderner Gestaltwandlung ist die gefragte Tanzgruppe ja schon seit beinahe zwanzig Jahren Chefin.
Luxusprobleme
Währenddessen hat sich das kulturelle Umfeld gewandelt. Dank des Bildungsmediums Internet schaffen Einbildungen Fakten, was eine Hochblüte des Identity-Shoppings miteinschließt. In Modern Chimeras tanzt der gängige Drang, sich zu verwandeln, mit einer für Liquid Loft eher untypischen Ernsthaftigkeit an. Ein halbes Dutzend Tänzerinnen und Tänzer posiert anmutig und souverän in ständigem Fluss und Hüllenwechsel.
Es scheint, als würden hier die Luxusprobleme einer saturierten Gesellschaft, die sich aus Furcht vor der Krisenwirklichkeit in ihrem Körperverpackungsmüll verspreizt, abgefeiert. Dieses Elysium des Narzissmus deutet – als Utopia im Karzer eines Schutzraums – nach außen die Leere einer eingebildeten Befreiung an.