stranger than paradise
Stranger Than Paradise, assoziativ vage verbunden mit Jim Jarmuschs gleichnamigem, winterlichem Eighties-Road-Movie, ist ein genuin film-choreografisch konzipiertes Werk: ein hybrides, subtil futuristisches Kammerspiel für acht Personen und eine investigative Kamera. Fast zögerlich nähert sich der Blick gleichsam „von außen“, aus einem imaginären Zuschauerraum, dem erratischen Treiben der PerformerInnen, entwickelt dabei bald eine Sogwirkung, die auf der Bühne sonst schwer herzustellen ist. Die konkav gestellten Spiegel sind ein Schlüssel zu diesem Werk, die verfließenden Bilder, die sie produzieren, zielen auf Melancholie und Unheimlichkeit. Stranger Than Paradise, in versunkene Stimmungen und trügerische Bilder gesetzt, ist eine Elegie, die den Übergang von einer Spezies in die nächste markiert, ist eine Reflexion der systematischen Erweiterung menschlicher Kapazitäten in das Mechanische, das Animalische, bisweilen auch das „Monströse“ einer gemischt tier-menschlichen Existenz hinein.
Das choreografische Film-Projekt Stranger Than Paradise wurde als video-on-demand in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien realisiert.
Still / Stranger Than Paradise ist ein zweiteiliger Abend bestehend aus Live-Performance (Still) und Film (Stranger than Paradise) und wurde beim ImPulsTanz Vienna Int. Dance Festival 2021 präsentiert.
Der Körper ist ein Auslaufmodell; noch wird er gebraucht, aber die Zurüstungen für seine Abschaffung laufen – und rufen Melancholie, Abschiedsmanöver wach. Im sphinxischen Schillern der TänzerInnen ist die alte Utopie der Gleichberechtigung der Wesen versteckt. Die Auseinandersetzung mit dem humanimal wirft Fragen der Teilung und der Verdoppelung auf. Ist das Bild, das der Spiegel produziert, eine Addition oder eine Division? Teilt er die Ansicht, die sich ihm bietet, oder doppelt er sie? Modifikation und Infektion liegen nah beieinander: Wir sind Biomaschinen, elektronisch verbessert, aber biologisch gefährdet. Nur die Technologisierung, die Synthese von Fleisch und Mechanik kann uns sichern: Die Illusion des Menschlichen, die in dessen perfekt nachgebauten Oberflächen steckt, täuscht über das Artifizielle der neuen Spezies hinweg. Wir werden uns an sie, also an uns gewöhnen.
Stefan Grissemann
momente letzter schönheit
zu Stranger Than Paradise von Liquid Loft
von Stefan Grissemann
Mit jedem Tanzschritt schreitet auch die Menschheit fort, kaum merklich, aber konsequent. Sie blickt zurück, bezieht sich auf Gewesenes und geht zugleich unaufhaltsam voran. Es ist kein Zufall, dass in der Choreografie von Stranger Than Paradise die kunsthistorischen Bezüge ebenso entscheidend sind wie die Visionen und der latente Futurismus in den Bildern, den Figuren, ihrem Driften, ihren Ticks. Die Zeit ist hier aus den gewohnten Fugen, sie erscheint kühn komprimiert und doch verblüffend neu entfaltet.
Die Liquid-Loft-Produktionen der vergangenen zwei Jahre schreiben einander fort: Die ehemals Alleinstehenden, nur mit sich Beschäftigten rücken nun zusammen, vermeiden aber jede Berührung; sie gleiten, einander nur im Ansatz zugewandt, lautlos aneinander vorbei. Die innere Logik, der sie folgen, ist eine künftige, das Pathos ihrer Körper gedämpft durch die Abgeklärtheit, auf die sie programmiert sind: fluide, flüchtige Charaktere, im Gleichschritt sich wiegend, im Schmerz erstarrt wie hinter kaltem Glas.
Sanft zerrinnen die Ansichten der Individuen, unaufgelöst zwischen Tier, Mensch und Maschine, in den konkav gestellten Spiegeln. Ihre Flächen generieren Trugbilder, werfen nicht zurück und weisen nicht ab, laden vielmehr zur Passage und zum Transit ein. Lewis Carrolls Alice gerät, indem sie durch den Reflektor geht, in ihr Wunderland, und auch Jean Cocteaus jugendlicher Dichter in Le sang d’un poète fällt nach dem Sprung durch die Oberfläche des Spiegelozeans in den Abgrund einer beunruhigenden Parallelwelt. Hinter den Spiegeln liegen Gegenwelten, Ungeahntes, Vorbewusstes. Die Illusion ist nur die andere Seite der „Wirklichkeit“, die Entstellung der einzige Weg zur Kenntlichkeit.
Im improvisatorischen Durchlauf der Verkleidungen wird der Wunsch nach flexiblen, wenn man so will: liquiden Identitäten verdeutlicht. Die Farben leuchten, aber die Körper drohen dahinter (wie in den Spiegeln) zu verschwinden, sich anzupassen, sich bis zur Unsichtbarkeit einzufügen. Die Textilien helfen dabei, immerfort die Richtungen zu wechseln, sie assistieren bei den ersehnten Kurs- und Selbstkorrekturen. Das Ensemble scheint im nüchternen Weiß des Bühnenraums gleichsam unscharf zu werden: out of focus. Der Spiegel teilt Emotionen (und er teilt sie auch mit), bleibt dabei aber selbst vollkommen stoisch. Er setzt eben keinen Fokus, wirkt egalitär, ihm ist alles gleichgültig, weil in ihm alles gleich gültig ist. So verschwimmen die DarstellerInnen ineinander, die sich vor den Zerrflächen rekeln.
Stranger Than Paradise denkt allegorisch Transhumanismus und Pandemie ineinander: Der Menschenkörper ist antastbar und technologisch zu erweitern; in den Netzwerken unserer Gehirne spielt sich all das ab, was wir Bewusstsein nennen. Es steht zum Upload in andere Datenträger bereit. Unsere defizitären Menschenkörper werden per Implantat und Prothese technisch bereichert, zu kybernetischen Organismen erhöht. Die Verschmelzung von Mensch und Automat, die von der Band Kraftwerk 1978 in ihrem Electro-Klassiker gefeiert wurde, transferiert das von Friedrich Nietzsche ein Jahrhundert davor imaginierte gottgleiche Existenzideal ins Zeitalter der Robotik („Die Mensch-Maschine / halb Wesen und halb Überding“). Der Übermensch von damals verwandelt sich in den Über-Androiden, denn der Homo sapiens hat sich disqualifiziert, seine angebliche Weisheit verspielt. Vorschläge zu seiner Verbesserung liegen auf dem Tisch: Die nächste Stufe des Menschseins liegt in einer computerunterstützten neuen Solidität (und Solidarität) von Körper und Geist. Zum Technooptimismus aber, der etwa den „spirituellen Maschinen“ des Google-Futuristen Ray Kurzweil zugrunde liegt, gehört diese dunkle Gegenseite: Eine sich vor unseren Augen vollziehende menschliche Selbstentmächtigung begleitet die Automatisierung der Intelligenz, die Simulation kreativen Denkens.
Stranger Than Paradise, in versunkene Stimmungen und trügerische Bilder gesetzt, ist eine Elegie, die in verlangsamter Konfiguration den Übergang von einer Spezies in die nächste markiert, ist eine Reflexion der systematischen Erweiterung menschlicher Kapazitäten in das Mechanische, das Animalische, bisweilen auch das „Monströse“ einer gemischt tier-menschlichen Existenz hinein. Eine Serie kryptischer Posen, die in diesem Werk wie geheime Übereinkünfte vollzogen werden, bilden das Präludium zu einem Schauspiel von Magnetismus und Fluktuation.
Die Künstliche Intelligenz, die der natürlichen nachempfunden ist, aber dazu konstruiert wurde, über diese jederzeit hinauszugehen, wird zur Etablierung einer neuen Ethik führen, zu der Nicht-Maschinen nachweislich nicht imstande sind. Die selbstlernenden, kognitiven Apparate, die wir uns zur Seite stellen, treffen algorithmisch festgelegte Entscheidungen nach einer unbestechlichen, aber hochproblematischen Moral, die in lebensbedrohenden Situationen das jeweils geringste Übel wählt. Wer retten will, muss Opfer bringen. Die Verantwortung für die Triage wird an die Maschine delegiert. Sie wurde schließlich zu eigenständigem Denken programmiert. Das klingt paradox: Die Selbstbestimmung ist verordnet, zur Autonomie wird genötigt, in die Freiheit fixiert. Der strukturelle Widerspruch, der sich darin findet, und der Zwang zu immer höherer Leistungsfähigkeit haben unter denen, die den Menschen ersetzen werden, für große Müdigkeit gesorgt. Ihr Ennui ist greifbar, aber er wirft Momente letzter Schönheit ab.
Die Trennung von Körper und Gefühl ist kaum zu bewerkstelligen, obwohl das Wagnis einer permanenten Identitätsverwandlung die physische Stabilität bei erhöhter Euphorie radikal unterläuft: Ich kann alles sein, auch ein Objekt! Der von Friedrich Nietzsche einst propagierte Menschenentwicklungsschub führt unweigerlich, von der Gegenwart aus betrachtet, in einen artifiziellen Kosmos, in die Maschinenkunst, in ein Second Life, das neue „Realitäten“ und virtuelle Identitäten bietet.
Im Paradies erschiene einem alles fremd (schon weil es derart fern ist), aber hinter den liquid mirrors und jenseits der Anthropo-Zentren ist Fremdheit gar kein Ausdruck mehr.
Breitenseer Lichtspiele
Diagonale Festival des Österreichischen Films, Graz, AT
Diagonale Festival des Österreichischen Films, Graz, AT
Stuttgarter Filmwinter
Animatter media art Victoria, BC (CAN)
Light Moves Festival of Screendance, Limerick, IE
Light Moves Festival of Screendance, Limerick, IE
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
ImPulsTanz Vienna International Dance Festival, AT
Theaterfestival Spectrum, Villach (AT)
Tanz.Ist Dornbirn, AT
Tanz.Ist Dornbirn, AT
Tanz.Ist Dornbirn, AT
Tanzquartier Wien, AT
Tanzquartier Wien, AT
Tanzquartier Wien, AT
dates
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Hannah Timbrell
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Videoproduktion, Kamera: Michael Loizenbauer
Soundkonzept, Komposition: Andreas Berger
Lichtdesign, Szenografie: Thomas Jelinek
Kamera: Kurt van der Vloedt (Artvan)
Kostüme: Stefan Röhrle
Ausstattung: Liquid Loft
Theorie, Text: Stefan Grissemann
Stage Management: Roman Harrer
Vertrieb: sixpackfilm
Distribution Stage Performance: APROPIC – Line Rousseau, Marion Gauvent
Produktionsleitung: Marlies Pucher
Produktion: Liquid Loft
Arrangements von Andreas Berger, zusätzlich verwendete bzw. bearbeitete Musik: Penelope Trappes – The Hair Shirt, Eurythmics – Aqua. Eine Produktion von Liquid Loft in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien. Liquid Loft wird gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien und vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.
credits
vorarlberger nachrichten, 27.03.2021
Tanz ist-Festival von Günter Marinelli bereichert jedenfalls schon das Heimkino / Brisant und ein ästhetisches Erlebnis
Dornbirn 100 Besucher bei einer Aufführung, die vor 20 Uhr beendet ist, sind seit zehn Tagen in Vorarlberg zugelassen. Die dazugehörende Verlautbarung ist gut zwei Wochen alt. Ein internationales Tanzfestival, wie es der Spielboden jährlich zwei Mal bietet, ließ sich so nicht programmieren. Günter Marinelli hat früh genug umdisponiert. Der Tanz ist-Macher streamt keine Aufführung, er übermittelt Projekte, die als digitale Produktion entstanden sind. Seit Freitagabend ist „Stranger than Paradise“ der österreichischen Performancegruppe Liquid Loft von Chris Haring und Stephanie Cumming online.
Tänzer bleiben im Fokus
Inspiriert vom gleichnamigen, von Melancholie gezeichneten Roadmovie von Jim Jarmusch ist ein Kammerspiel zu erleben, in dem acht Personen zwischen Selbstbeobachtung und -bewunderung den Kontakt zum anderen scheinbar nur zum Selbstzweck suchen. „Wir sind Biomaschinen, elektronisch verbessert, aber biologisch gefährdet“, heißt es im Text zur Produktion. „Stranger than Paradise“ bietet ein ästhetisches Erlebnis, bleibt im Bildcharakter bei dem, was man am Ensemble so schätzt und enthält weitere inhaltliche Brisanz, wenn man Selbstentfremdung entdecken kann. Grundsätzlich zeigt die Produktion aber auch das Ausschöpfen technischer Möglichkeiten, das dort aufhört, wo die einzelne Tänzerin und der einzelne Tänzer nicht mehr im Fokus stehen. Das heißt viel.
die presse, 30.01.2021
Liquid Loft online: Monströse Körper, opulenter Tanz / Isabella Wallnöfer
Bis Sonntag online: die neue Choreografie von Chris Haring. Cool.
Donnerstagabend hatte „Stranger Than Paradise“, das neue Stück von Chris Haring für seine Company Liquid Loft, auf der Plattform des Tanzquartiers online Premiere. 72 Stunden lang ist es nun abrufbar – bis Sonntagabend. Auch wenn einiges stören mag an einer rein virtuellen Begegnung mit diesen beeindruckenden Tänzer-Charakteren (zum Beispiel die Tatsache, dass man nicht selbst entscheiden kann, was oder wen man in den Fokus nimmt) – es lohnt sich, denn ein intensives Erlebnis ist es allemal. Am besten: Kopfhörer auf, laut aufdrehen und eintauchen in diese fremde, zeitweise bizarre Welt, in der es von Wesen wimmelt, die nicht immer menschlich sind, sondern auch animalisch zucken und die Pfoten heben oder sich zu fließenden Gebilden verformen . . .
Cool wie Jim Jarmuschs gleichnamiges Road-Movie, das atmosphärisch Pate stand, sind hier Musik, Setting und Tänzer, die teilweise von Haute-Couture-Auftritten inspiriert scheinen. Auf der weißen Bühne posen sie vor gebogenen Spiegeln, die einzelne Körperteile völlig verzerrt wirken lassen und die Gestalten als groteske, wabernde Gebilde zurückwerfen. Dann wirken sie wie kauzige Einzeller unter dem Mikroskop – oder wie Aliens, deren übergroße Mäuler nicht nur nach Luft schnappen, sondern mit elektronisch bearbeiteter Stimme sehnsuchtsvolle Songs mitsingen oder unverständliche Texte flüstern, die leise aus einer anderen Welt herüberschwappen.
Am Ende kommt es zu einem kollektiven Räkeln, Kuscheldecken werden über die Bühne gezogen, nicht selten sitzt jemand in Modemagazin-Pose darauf. Man fühlt sich eigentümlich berührt von diesem opulenten, sinnlichen Moment. Dieses Stück, es ist wie ein Ausblick in eine Welt der Zukunft, in der alle Grenzen aufgehoben sind, nicht nur die der Geschlechter.
wiener zeitung, 30.01.2021
Mensch oder Maschine? / Verena Franke
Chris Harings „Stranger than Paradise“ zeigt, dass Performance auch online überzeugen kann.
Sind es Menschen oder Maschinen? Gar Cyborgs, also ein bisschen von beidem? Eine logische Entscheidung ist eigentlich gar nicht gefragt, sondern ein Auf-sich-wirken-Lassen der starken cineastischen Bilder, die Chris Haring und sein Ensemble Liquid Loft da auf den Bildschirm zu Hause bringen. „Stranger than Paradise“ heißt die Uraufführung, die bis inklusive Sonntag auf der Website des Tanzquartier Wien als Video-on-Demand kostenlos zu sehen ist.
Der heimische Choreograf Chris Haring hat sich vom gleichnamigen Independent-Roadmovie von Jim Jarmusch aus dem Jahr 1984 inspirieren lassen. Die Atmosphäre der darin vorkommenden drei verlorenen Seelen, die durch weite Landschaften wandeln, verwandelt Haring in einen bildstarken Performance-Film. Sein vielleicht bisher melancholischstes Werk in den 15 Jahren des Bestehens seines Künstlerkollektives Liquid Loft – ungewohnt tiefernst.
Bunte, glänzende und glitzernde Cyborgs
Ein Schwenk vom Zuschauerraum über die Technik hin zur weißen Bühne des Tanzquartiers lässt gleich zu Beginn erkennen, dass hier die Kameraführung nicht nur der Aufzeichnung einer Vorstellung im Guckkastenformat dient. Vielmehr ist die Kamera ein fixer Bestandteil der Choreografie und beweist in den ersten Minuten des kurzweiligen Stücks, dass Tanzprojekte in gestreamter Version sehr wohl funktionieren. Und wie! Sie können sogar zum Staunen bringen, wenn zu den acht außergewöhnlich präsenten Performern (Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio und Hannah Timbrell) gezoomt wird. Und man sieht detailgenau ihre Bewegungen, die immer wieder, trotz Innehalten und Repetitionen, dennoch im Fluss bleiben: emotionslos, jeder für sich selbst, in sich selbst gekehrt. Sie sind bunt, glänzend, mit Tiermuster, glitzernd und geschlechtsunspezifisch gekleidet, auch hier ständig im Verwandeln. Dazu mischt Liquid-Loft-Urgestein Andreas Berger eine Klangkulisse zwischen Eurythmics und Penelope Trappes, die eine mystische, dann wiederum animalische, bald auch düstere Stimmung verbreitet.
Mit vielleicht eineinhalb Meter hohen Spiegelfolien, halbrund aufgestellt, und raffinierter Lichtregie (Thomas Jelinek) wird ein Spiel der Reflexionen und der Fantasie inszeniert. Dong Uk Kim räkelt sich dabei im für liquid-loft-typischen Lippensynchrongesang, entkörpert sein verzerrtes Spiegelbild erst zu einem Alien, dann zu einer bizarren menschlichen Hülle. Das Gesicht deformiert sich scheinbar schmerzvoll. Die Abstraktion dieser Bilder kennt keine Grenzen, versetzt den Zuschauer beinahe in einen tranceähnlichen Dämmerzustand. Ein abruptes Ende dieser Szene folgt, fast gruselig überbelichtet wird exerziert. Ein stetiger Wechsel zwischen hell und dunkel, Mensch und Nicht-Mensch. Weitwinkel und Zoom folgen in perfekt inszenierten ästhetischen Bildern. Dass Haring in seinen Arbeiten immer auch cineastische Einflüsse klar erkennbar gemacht hat, ist bekannt und schließlich auch Teil seiner choreografischen Handschrift. „Stranger than Paradise“ fasziniert als Gesamtwerk, in dem Tanz, Inszenierung, Musik, Licht und Kameraführung ineinanderfließen.
der standard, 30.01.2021
Betäubende Spiegel / Helmut Ploebst
Das Dilemma des virtuellen Körpers: Uraufführung von „Stranger Than Paradise“ der Wiener Tanzcompany Liquid Loft
Eine Gruppe bunt gekleideter junger Leute kommt zusammen, um ein Bild zu tanzen. Mit so präzisen wie lasziven Bewegungen zu verspielt sprudelnd bis dickflüssig wirkender Musik lassen sie ihre Körper in eine existenzielle Vorhölle treiben. Die Bedingungen, unter denen Stranger Than Paradise, das neue Stück der Wiener Company Liquid Loft, auf der Website des Tanzquartiers Wien zu sehen ist, verstärken diesen Eindruck noch.
Die Performance der vier Frauen und vier Männer fand in der Museumsquartier-Halle G statt. Damit die zeitversetzt gestreamte Choreografie ihr Publikum erreichen kann, braucht es zusätzliche Infrastruktur: Kamera, Schnittprogramm, Vimeo-Plattform, Veranstalterwebsite, Netzübertragung und Bildschirm. Ein Glücksfall: Gerade die zwischen Tänzer und Zuschauer geschaltete Technik macht Stranger Than Paradise zu einem künstlerischen Treffer. Einen wichtigen Schlüssel zum Erfolg liefern acht biegsame Spiegel im Stück. Spiegelungen zählen bekanntlich zu den ersten Bilderfahrungen der Menschheit. Und sie haben ihre Tücken.
Der Medienphilosoph Marshall McLuhan meinte 1964 in seinem Klassiker Understanding Media: The Extensions of Man, dass diese Erfahrungen narkotisierende Wirkung hatten. Immerhin ist der Name Narziss auf das griechische Wort „narkein“ zurückzuführen – und das bedeutet „betäuben“.
Diese Idee greifen auch die Liquid-Loft-Gruppe und ihr Choreograf Chris Haring auf. Wie hypnotisiert betrachten die Performer anfangs die Verzerrungen ihrer Spiegelbilder in den konkav gebogenen Spiegeln. Was folgt, ist ein Wechselspiel aus Benommenheit und Versuchen, sich dagegen zu wehren. McLuhan erklärte die Betäubung mit der berühmten These, Narziss habe sich am Ufer eines Teichs gar nicht in sich selbst verliebt. Vielmehr sei er dem Stress erlegen, den die bildhafte Erweiterung seines Körpers ausgelöst habe, und einer daraus resultierenden „Selbstamputation“ zum Opfer gefallen. Das passt wie angegossen zu dem bei Stranger Than Paradise mitgelieferten Textmaterial.
Darin ist vom „Transhumanismus“ die Rede und davon, dass heute „unsere defizitären Menschenkörper“ einerseits „zu kybernetischen Organismen erhöht“ werden, was andererseits zu einer „Selbstentmächtigung“ führt. Die Spezies Mensch kappt also ihre eigenen Körper. Dazu merkt McLuhan an: „Selbstamputation schließt Selbsterkenntnis aus.“
reviews
melancholie und gemeinschaft
Claudia Slanar über Stranger Than Paradise von Liquid Loft / Dieser Text wurde vom Tanzquartier Wien im TQW Magazin veröffentlicht.
Dieser Tage kann wohl kaum jemand umhin, in Betrachtungen über performative Künste die Aufführungssituation miteinzubeziehen. Premieren statt auf der Bühne, Zuschauen vom Computer aus, Stücke auf dem Bildschirm. Bei Onlinegesprächen – nach beinahe einem Jahr „Praxis“ – kann es mittlerweile zu einer Demokratisierung der Sprecher*innen kommen, vorausgesetzt die Tools sind so gewählt. Die Hemmschwelle, Fragen zu stellen, ist wesentlich niedriger; es ist leichter, in den Chat zu schreiben, als aus einem Zuschauerraum Richtung Bühne zu rufen. Und scheinbar ist es ebenfalls leichter, Lob und Dank auszudrücken. Dies alles geht natürlich zu Lasten der „Anwesenheit“: Die Tänzer*innenkörper zu sehen und zu hören, die anderen Zuseher*innenkörper zu spüren, zu riechen, zu hören – all das ist nicht möglich.
Warum diese lange Betrachtung zur Einführung? Stranger Than Paradise kann ebenfalls nicht beginnen, ohne über seine Aufführungssituation zu berichten. Zu Beginn sehe ich eine Bühne, acht Performer*innen, die sich darauf bewegen, aufwärmen, proben. Der Bühnenrand ist sichtbar, mit Kleidung, die während des Stücks getauscht werden wird, und Stoffen, mit denen performt werden wird, bedeckt. Erweitert ist dieses Außen um die Aufnahmeapparatur: Kamera, Monitore, Computer mit Schnittprogramm, Ton- und Lichtmischpult. Dieser Beginn gleicht einem „establishing shot“ im Film: der Ort des Geschehens, der Kontext wird etabliert, meist aus der Vogelperspektive, auch hier von schräg oben. Nach dem Schnitt bin ich tatsächlich näher am Geschehen, und bald, von Kameraauge und Regie geführt, mittendrin. Wie ich so mit guten Kopfhörern vor meinem Computerbildschirm sitze, draußen ist es dunkel, fühlt es sich plötzlich tatsächlich wie ein Film an, den ich mir ansehe. Das macht im Zusammenhang mit Liquid Lofts Praxis Sinn, werden die Körper doch oft als bereits mediatisierte, das Performen als eine von Filmbildern, ja sogar einer filmischen Sprache definierte Praxis mitgedacht. Die Musik – der Score – trägt dazu bei. Er etabliert die Atmosphäre, unterstreicht etwa die Höhepunkte der Solos. Durch und mit ihm driften die Tänzer*innen ab in eine andere (Traum-)Welt und werden am Ende wieder aufgefangen und schließlich, nachdem die Musik verstummt ist, überrascht, konsterniert, ratlos zurückge- und in die – ja wohin eigentlich? In das filmische Off? In die Wirklichkeit? – entlassen.
Dazwischen liegen 40 Minuten Reflexion über Körperbilder, Menschenbilder; über Einsamkeit und die Möglichkeit und gleichzeitige Unmöglichkeit, in der Gemeinschaft zueinanderzufinden. Weniger Maschinen oder Roboter denn fluide Wesen zeigen sich, was durch das Setting mit halbhohen konkaven Spiegeln unterstrichen wird. In diesem Spiegelkabinett der Vermischung von Deleuze’scher Aktualität und Virtualität – außerhalb dessen sich das Individuum nicht mehr denken kann (so die These) – ist eine unendlich tiefe Trauer und Melancholie angelegt. Denn das Außen, das Aufeinandertreffen dieser Individuen birgt ebenfalls Erstarrung, ein Auf-der-Stelle-Treten. Es gibt nur eine (weit) entfernte Ahnung eines Werdens. Dieses „becoming“ (animal, machine, post-human?) ist ebenfalls mit Arbeit und Leid verbunden. Die allgegenwärtige neoliberale Selbstoptimierung schwingt hier mit, ist aber nicht das dringlichste Anliegen. Es sind eher die Konstellationen und die Möglichkeiten zu kommunizieren, die da nicht existieren und erst neu verhandelt werden müssen. Die Pas de deux laufen nebeneinander ab. Die Körper als Zeichen (der Automatenhaftigkeit, der Tierhaftigkeit, des Menschseins) wiederholen sich in ihren Gesten, erstarren dabei immer wieder zum Bild, manchmal auch zu unheimlichen Schatten. Am berührendsten sind jene Momente, in denen sich einer Verbindung angenähert wird, für eine kurze Zeit ein Gleichklang erreicht werden kann.
Nach dem Ende des Stücks, die Credits laufen noch, kann ich nicht umhin, die Musik zu googeln und auf so manche Überraschung zu stoßen: Penelope Trappes’ Interpretation von Nick Cave und The Birthday Party ist kälter als Eis; eine verlangsamte Annie Lennox klingt plötzlich wie Soul aus den 1970ern und dann wieder wie David Bowie. Das lenkt die Aufmerksamkeit zuletzt wieder auf das Verflüssigen eines starren Identitätskonzepts und auf die noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des Werdens. Bei aller Melancholie, bei aller Trauer über eine so ungewisse Zukunft bleibt ein Glücksgefühl, eine Ergriffenheit, die nachwirkt.